50 Jahre 1968: über Werte
Nie zuvor habe ich so viele VW-Busse gesehen, voll bunter Grafik, mit Blumen und Paisley-Mustern wie in diesem Jahr. Hübsch und bunt – gern als Werbeträger, etwa wie in meinem Bild vom aktuellen Jahresprogramm der VHS Köln. Als damals Achtjährige allerdings sind die mir kaum „in echt“ auf den Straßen begegnet. Heute auch eher nicht. Wofür also stehen sie – und was vermittelt uns ihr Anblick?
© zebra werbeagentur[/caption]
Über Geld-Werte
Unsere kleine Familie hat beispielsweise auch ein historisches Wohn-Auto, keinen VW-Bus, sondern einen Oldtimer, seit acht Jahren mit H-Kennzeichen. Ein ganz seriöses, unbuntes Wohnmobil von Arnold auf Mercedes-Basis. Das kostete in seinem Baujahr ab 1977 mehr als 70.000 DM, wir haben es rund 30 Jahre später für 6.000 Euro gekauft. Etwa um die gleiche Zeit (1979) kostete ein VW-Bus zwischen 14.000 und 17.000 DM, heute können das locker zwischen 50.000 und 60.000 Euro werden. Was ist da passiert?! Wo kommt diese Wertsteigerung her?
Ganz klar: Hier wird an einem Mythos gearbeitet. Es gibt den „Bullie“ schließlich auch als Bleistiftspitzer, Schreibuntensilienhalter, auf T-Shirts gedruckt und gestickt, als Kühlschrankmagnet, Postkarte, Schlüsselanhänger und neu aufgelegtes Retro-Mobil (Kostenpunkt: zwischen 30.000 und 45.000 Euro) Ganz klar: Da soll etwas – extrem nostalgisch verbrämt – über ein halbes Jahrhundert hinweg gerettet werden.
Werte aus „den 68ern“
Welche Werte werden für solche Preise über einen VW-Bus mit-verkauft? Klar: gute Laune, Freiheit und Abenteuer. Und die sind fast schon das Einzige, was an Positivem aus „den 68ern“ überlebt zu haben scheint. Ansonsten vermitteln Talkshow und Co.: In diesen Zeiten waren wir bestenfalls blauäugig, schlimmstenfalls terrorverdächtig. Und als 1960 Geborene zähle ich mich eindeutig mit zu diesem „wir“. Wer aber heute noch Idealen wie Gewaltlosigkeit, freie Liebe, betriebliche Mitbestimmung, „Antifa“-Konzepten, Kapitalismuskritik, oder Solidarität mit Benachteiligten aus aller Welt anhängt, läuft schlichtweg Gefahr, sich lächerlich zu machen. Gelächelt wird allenfalls beim Anblick der lustig bunt bemalten VW-Busse.
Natürlich ist es Zufall, dass ausgerechnet die Erbauer des Kultautos zuerst beim Lügen und Betrügen erwischt wurden … Es hätte auch andere Auto-Konzerne treffen können. So oder so: Von Werten ist da nicht mal ansatzweise die Rede.
Über das Sich-Erinnern
Außerdem frage ich mich: Wie geht „gutes“, produktives Erinnern? Natürlich ändert sich im Lauf von 50 Jahren so gut wie alles. Trotzdem glaube ich daran, dass es Dinge gibt, die bleiben im Kern immer ähnlich. Werte oder Sinn zum Beispiel. Wie können also sinnvolle Werte sinnvoll überleben? Vielleicht geht es euch ja ähnlich wie mir: Ich bin mit Gedanken aufgewachsen wie:
- Solidarität ist wertvoll, wir KÖNNEN einander helfen
- Krieg darf nach Möglichkeit nirgendwo mehr stattfinden
- Wenn wir Geld, Arbeit, Produktionsgüter und Bodenschätze nicht möglichst schnell gerechter verteilen, werden wir allesamt schon bald grandios scheitern
- Wer seine historische Vergangenheit nicht gründlich unter die Lupe nimmt, läuft Gefahr, auch unabsichtlich an weiteren Untaten mitbeteiligt zu sein. Wer sich nicht mit der Geschichte seiner Eltern auseinandersetzt, findet kaum neue, bessere Wege
- Demokratie und Informationspolitik sind ständige Lernprozesse. Die wollen und müssen geübt werden, Transparenz und möglichst breite Teilhabe sind dabei unverzichtbar.
Wer mit solchen Werten aufgewachsen ist – und sich halbwegs klar und konkret an sie erinnern kann – hat schon ein ziemlich gutes Rüstzeug für Respekt auf Gegenseitigkeit und/oder eine friedliche Zukunftsfähigkeit mitbekommen. Was ist damit geschehen?!
Wenn der Respekt fehlt
Es stimmt schon: Viele der „68er“-Ideale waren tatsächlich blauäugig. Manche davon sollten auch ausdrücklich einfach nur Experimente sein, sein dürfen. Aber es waren immerhin Ideale – und für mich damit positive Zukunftsoptionen, Anreize, mögliche Wegziele; Werte eben. Das ist schon ziemlich viel. Besser: Es war ziemlich viel … Denn: Wie konnten solche Werte sich in nur 50 Jahren fast völlig pulverisieren, in ihr Gegenteil verkehren? Zumindest stellenweise, im Deutschland von 2018? Für mich spielt da auch die Art der Erinnerung eine Rolle: Wie ernst nehmen wir unsere eigene Geschichte der letzten 50 Jahre? Wo darf sie mehr sein als bunte Blümchen? Noch sinnloser als ein bemalter Bus wirkt da beispielsweise das selbstverliebt unkritisch-esoterische Geschwätz eines Rainer Langhans.
Unerträglich arrogant finde ich, wie viel Spott eine Claudia Roth schon auf sich zieht, bevor sie auch nur ein einziges Wort gesagt hat; noch unerträglicher, wieviel stillschweigenden Konsens dieser Spott findet. Da ist nichts von Respekt, nirgendwo. Der Respekt für einen Lebensweg, der ebenso spannend ist wie die Geschichten von über 1,3 Millionen anderen „Babyboomern“ pro Jahr: Woran erinnern die sich? Wo finde ich diese Geschichten? Und: Wie werden sie erzählt?
Wo und wann sind die Werte verloren gegangen?
„Salonfähig“ war und ist bei uns fast immer nur das Entweder-Oder: Entweder warst du ganz entschieden im „Hippie-Denken“ verhaftet. Ganz Deutschland sah sich politisch „irgendwie links.“ Oder du hast das anders gesehen, irgendwie. Dann aber bist du erst mal erschrocken verstummt, hast still in einer Ecke gesessen und dich praktisch jahrzehntelang kaum noch ernsthaft zu Wort gemeldet (Bayern vermutlich ausgenommen …). Da hat sich wohl ganz schön was aufgestaut. Ganz und gar nichts mit Flowerpower und Paisley-Mustern. Warum haben die, die jetzt nach Deutsch-Heimattum mit dichten Grenzen schreien, nicht schon früher geredet? Hätten wir sie ernst genommen? Oder doch lieber weiterhin von der besten aller möglichen Welten in bunten Farben geträumt?
Und: Hätten nicht auch wir viel früher sehr viel entschiedener kommunizieren können, was alles vor 50 Jahren an konstruktiven, brauchbaren Gedanken, sinnvollen Werten entstanden ist? Was davon sich produktiv weiterdenken, weiter entwickeln lassen würde? Damit meine ich ganz altmodische – aber meiner Ansicht nach überlebensnotwendige – Dinge wie Solidarität, Friedenswillen, Teilhabe, Gemeinschaft, Demokratie. Aber eben immer auch: Respekt. Respekt vor dem/der anderen. Der fehlt jetzt. Und ist ganz sicher nicht über bemalte Autos vermittelbar. Wenn die das Einzige sind, was von „unseren 68ern“ übrig bleibt, haben wir meiner Ansicht nach einiges falsch gemacht:
- Waren wir zu sicher, DEN Stein der Weisen, den richtigen Weg in eine bessere Gesellschaft gefunden zu haben?
- Wurde zu laut gebrüllt: „Ho-, Ho-, so und nicht anders“? Wer anders dachte, fühlte oder sah, saß bald schon verschreckt in einer Ecke, blieb dort, stumm für die nächsten Jahrzehnte – und wir haben es nicht mal bemerkt?
- Haben wir uns von der RAF so erschrecken lassen, dass wir die Werte unserer Jugendzeit gleich gar nicht mehr verteidigen wollten/konnten?
- Haben wir uns „bestechen“ lassen, vom guten, bürgerlichen Leben, uns viel zu weit ins Private zurückgezogen? Waren vielleicht auch einfach nur erschöpft von all den Demos und Diskussionen, den Experimenten und viel zu hohen Idealen? Aber jede Erschöpfung hört schließlich auch mal auf … Wollen wir uns jetzt viel zu früh auf unserem Älterwerden ausruhen?
- Oder war es etwas ganz anderes? Wie seht ihr das? Wie geht es euch beim Anblick bunter VW-Busse? Gibt es überhaupt noch so etwas wie Werte – oder schreibe ich hier schon nostalgischen Blödsinn, wenn ich annehme, dass die überhaupt noch eine Rolle spielen?
In eigener Sache
Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.
3 Gedanken zu „50 Jahre 1968: über Werte“
Vorab die Information, die wichtig ist:
Ich bin Jahrgang ’45 und habe diese Zeit sehr bewusst miterlebt, als „Zeitzeuge“, wie es so schön heißt. Die Versuche, die Jahre von ’68 an im Rückblick zu verfälschen sind für mich offensichtlich – wer da jünger oder noch nicht geboren war bekommt von den Medien oft ein Zerrbild gezeichnet über das man nur den Kopf schütteln kann.
So viele Lügen um die staatstragenden Parteien davor zu bewahren darauf geprüft zu werden, ob sie seit ’68 etwas gelernt hätten. Haben sie nicht. Eher im Gegenteil. Sie sind dem Kapital hörig, bekommen von den Wirtschaftsbossen Handlungsanweisungen und weil sie sich finanziell davon abhängig gemacht haben (Parteispenden = Korruption!) stecken sie bis zum Hals im Sumpf und müssen kuschen. Politik wird für eine schmale Oberschicht und deren Nutzen gemacht, die Masse der Bevölkerung darf derweilen die Gürtel immer enger schnallen ….
„Flower Power“ und bemalte VW-Busse – das war wohl eher das Lebensgefühl der Hippies in Kalifornien. Diese ‚Revolution‘ in USA hatte ganz andere Gründe und völlig andere Ziele als die Bewegung in Europa insbesondere in Deutschland.
Ich war als Austauschschüler 1963-64 in USA. Dort habe ich erster Hand erlebt, wie junge Menschen bis 21 für *unmündig* gehalten und dementsprechend *rechtlos* behandelt wurden. Dort richtete sich der Kampf deswegen gegen diese Entrechtung und als Nebenschauplatz gleich noch gegen die Unterdrückung der Frauen (die bis heute wegen der ultraorthodoxen Christensekten in einigen Staaten immer noch anhält).
Hier in Deutschland spielte sich ein ganz anderer Kampf ab. Das war der Kern der ’68er Bewegung:
Durchbrechen des Schweigens der Elterngeneration, die sich für ihr Mitläuferverhalten (zu recht) schämte, Bloßstellung der in den Institutionen des Staates und den Parlamenten immer noch vorhandenen und angestellten Naziverbrecher und ihrer Seilschaften, und Auflösung der vorherrschenden Prüderie und Körperfeindlichkeit, die als Rest der „deutschen Werte“ aus dem Naziregime übrig waren.
Die plakative Bezeichnung der Protestierenden als „Linke Krawallmacher“ oder später „Terroristen“, waren doch von BILD und anderen Springerblättern, sowie den regierungshörigen Fernsehanstalten benutzte Stempel um die berechtigten Forderungen der Studentenbewegung zu diskreditieren. Ich habe von 1970 bis 1976 studiert (mit 1,5 Jahren Unterbrechung und Urlaubssemester in denen ich als Lehrer an einem Gymnasium unterrichtet habe) und sonderbarerweise habe ich eine ganz andere Studentenschaft erlebt als sie von den Medien gezeichnet, nein, karikiert wurde.
Weil die Argumente nicht widerlegt werden konnten hat man zu den bewährten Tricks gegriffen:
Verächtlichmachung der Protagonisten und Verschärfung der Gesetzgebung um an sich harmlose Aktionen als „Gesetzesübertretungen“ verfolgen zu können – und da schließt sich der Kreis. Die Richter aus der Nazizeit hatten nach Grundgesetz und BGB über die zu urteilen, die sie einer rechten Gesinnung und rechter Vorurteile beschuldigt hatten – da war der Ausgang vieler Verfahren schon vorprogrammiert!
Man hat die Bürgerschreck-Kommunen (Teufel), eine winzige Minderheit während dieser Zeit, als Beispiel für die breite Masse der Studentenschaft dargestellt und sich medial daran abgearbeitet. Damals gab es noch kein Internet in dem diese Karikatur hätte entlarvt werden können. Und das ist der Grund warum heute die Politik nach ‚Einschränkungen‘ im Internet trachtet – das ist das Medium, das ihnen die Meinungshoheit entrissen hat, das sie deswegen fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
Da schließt sich der Kreis:
Die wenigen Zugeständnisse, die seit ’68 gemacht wurden sind allesamt wieder ‚kassiert‘, aufgehoben und platt gemacht. Das Muster ist offensichtlich und wirksam. Man macht kleinste Zugeständnisse gegenüber denen die arbeiten und große Gesten gegenüber denen die Arbeit ausbeuten und Kapitalgewinn machen statt Werte zu produzieren.
Unseren Staat „Demokratie“ zu nennen ist der blanke Hohn.
Für mich ist der Bulli Nostalgie pur… Mein erster Freund hatte einen und so hängen für mich viele schöne Erinnerungen von vermeintlicher Freiheit und Unabhängigkeit an dem freundlich guckenden Auto. War einfach eine aufregende Zeit, dieses Erwachsenwerden.
Die freundlich guckenden Autos … Das ist ja noch mal ein Thema für sich 😉
Liebe Grüße
Maria