Wenn Kriegsenkel schreiben …
Erst einmal bitte ich all jene um Verzeihung, die meinen Newsletter abonniert haben … Dieser Text ist in weiten Teilen aus meiner August-Ausgabe „geklaut“. Immerhin: Wer ihn abonniert hat, bekam ihn zuerst. Ist ja auch schon mal was. Und ich habe auch noch ziemlich vieles ergänzt und aktualisiert. Denn das Thema lässt mich einfach nicht mehr los, es ist schlicht zu wichtig.
Wer sind die „Kriegsenkel“?
Es geht um uns. Um die heute 50- bis 70-Jährigen, vor allem die „Babyboomer“, sehr grob gesagt, die Generation der zwischen 1950 und 1970 Geborenen. Doch das ist noch lang nicht alles. Es geht um traumatische Erfahrungen, tiefsitzende Verletzungen. Und die werden weitergeben, unter Umständen noch an Generationen nach uns. Was die Zahl der Kriegsenkel natürlich vervielfacht.
Häufig wird auch versucht, daraus verschiedene Untergruppen in der Generationen-Definition zu bilden. Doch letzten Endes ist es ganz persönliche Ermessenssache, wer sich in welcher Form als Erbe der Erfahrungen von Kriegskindern wiedererkennt.
Ich jedenfalls erkenne mich da ständig wieder … Kein Wunder: Mein Geburtsjahrgang 1960 liegt in der Hoch-Zeit der Babyboomer und der Kriegsenkel. Und ich hab mich aus so vielen Gründen dauernd fremd gefühlt, immer „anders“. Da tut es erst einmal nur gut, zu wissen, dass man damit nicht allein ist. Hilft schon mal ein bisschen. (Um ehrlich zu sein: Ich war ziemlich überrascht davon, WIE hilfreich allein diese Erkenntnis schon ist!)
Wie weit man dann in die – oft reichlich schmerzhafte – Aufarbeitung der eigenen Kriegsenkel-Geschichte einsteigt, bleibt am Ende uns allen selbst überlassen.
Woran erkenne ich Kriegsenkel?
Eine Besonderheit an der Situation von „Kriegsenkel:innen“ ist, dass sie jahrzehntelang mit dem Schweigen ihrer Eltern klarkommen mussten, sich viel zu oft für das (mehr oder weniger unerreichbare) Glück der eigenen Eltern verantwortlich fühlen, nie verstanden, warum sich das alles so seltsam, so falsch, so kalt, so vernebelt anfühlte. Darum sehen sich viele auch eher als „Nebelkinder“: „Der Nebel, mit dem ich das Klima umschrieb, in dem wir aufwuchsen, ist letztlich ein Produkt der Angst. Der Angst nämlich davor, selbst verschlungen zu werden, wenn man sich den Schrecken der eigenen Geschichte stellt. ‚Nebel‘ bedeutet zugleich Schutz und Hemmnis“, schreibt der 1961 geborene Theologe, Autor und Herausgeber Joachim Süss in dem Buch „Nebelkinder“, einer Anthologie mit dem Untertitel „Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte“, das er gemeinsam mit Michael Schneider herausgegeben hat.
Doch, Achtung! Nicht jeder Mensch, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, ist auch gleich „Kriegsenkel“ mit allen Spuren der beschriebenen (psychischen) Verletzungen. Ganz und gar nicht! Dazu gleich noch mehr …
Wo finden Kriegsenkel Informationen?
Süss und Schneider gehören beide dem Vorstand des Vereins „Kriegsenkel e.V. an. Wer sich für das Thema interessiert, findet dort eine Fülle von Informationen – etwa alle bislang zum Thema erschienenen Bücher. Bislang sind das zwölf belletristische Werke, 20 Sach- und sieben wissenschaftlich aufbereitete Bücher. Das ist ziemlich viel, ja, man kann sagen: Das Thema boomt regelrecht – und da ist noch lang kein Ende in Sicht, ständig kommen weitere Bücher dazu – und das Interesse an ihnen ist groß.
Übrigens werde ich Anfang Oktober zur Jahrestagung der Kriegsenkel nach Erfurt fahren. Tatsächlich finde ich so ein Treffen ziemlich aufregend, es hat was von Familien-Erwartung und – tja: völliger Fremdheit. Bin wirklich gespannt!
Wo kommen Kriegsenkel vor?
Für mich war das erste Buch zum Thema „Die Kraft der Kriegsenkel“ der Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand. Ein echter Augenöffner – aber Gottseidank auch gleich einer, der so großen Wert auf das Wort „Kraft“ legt. Denn für mich ist offensichtlich: In der Beschäftigung mit der Geschichte der Kriegsenkel liegen – vor allem für die Betroffenen selbst – neben schmerzhaften Prozessen auch jede Menge Chancen. Meine Gedanken dazu sind schon etwas älter, aber immer noch gültig. Ihr findet sie hier und hier.
Wer noch weitere Bücher lesen möchte, hier noch einige Tipps: In „Die entschlossene Generation – Kriegsenkel verändern Deutschland“ wagt der Theologe, Autor und Historiker Joachim Süss einen Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Folgen dieser Geschichte(n) weit über Deutschland hinaus. Seine Hauptfrage ist dabei: „Wie lässt sich das Gemeinsame beschreiben, das allen individuellen Erfahrungen innewohnt“? Keine einfache Aufgabe – und vielleicht kann er die auch nur aufgrund seiner theologischen Ausbildung leisten. Es ist in jedem Fall ein sehr umfassender Blick auf das Thema – und genau das zeichnet dieses Buch aus.
Mit am schlimmsten ist sicher das Thema der vergewaltigten Mütter. Der Deutschlandfunk Kultur hat da neben einem podcast noch einen weiteren Buchtipp . Es ist in jeder Hinsicht schrecklich: Je intensiver man sich mit dem Thema beschäftigt, desto größer wird es. Und ich kann hier wirklich nur ausgewählte Hinweise geben.
Für mich ein bisschen aus der Reihe fällt „Die Heimat der Wölfe – Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie“ von Raymond Unger. Kein Wunder, ist der Mann doch unter anderem auch Bildender Künstler. Sein Buch hat gleichermaßen autobiografische wie assoziativ-literarische Züge. Es zeigt, was alles möglich ist, wenn man beginnt, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Er macht daraus eine Erzählung ganz im Sinn eines altmodischen Erzählers, der etwa an einem offenen Feuer sitzt. Das hat sicher nichts mit Romantik zu tun, verschweigt er dabei doch ganz und gar nicht, wie schmerzhaft das Erzählte war und ist. Für alle Beteiligten. Doch das Schreiben dieser Geschichten ist und bleibt eine reale Chance zur Aufarbeitung.
Wie groß diese Chance ist, sieht man an dem jüngsten Buch in der Reihe der Kriegsenkel-Geschichten. Das stammt von der Schauspielerin Maria Bachmann, die auch Motivations- und Präsenzcoach und Autorin ist. Schon mit 28 Jahren hat sie ein durchaus überzeugendes Buch geschrieben: „Panikrocker küsst man nicht“, 1992 erschienen – und nur noch antiquarisch erhältlich. Darin geht es vor allem um ihre On-/Off-Beziehung zu Udo Lindenberg. Aber wer dieses Buch mit offenen Augen liest, ahnt da schon, was der Autorin noch bevorstehen könnte … „Wo ich auch hinkam, da war ich fremd“, schreibt sie einmal in ihrer typisch lakonischen Art. Über 25 Jahre danach hat sie es geschafft, die Ursachen für dieses ständige Fremdheitsgefühl zu entdecken und aufzuarbeiten. Natürlich ist es ihre Geschichte als Kriegsenkelin – und die daraus resultierende, „sekundäre Traumatisierung“. Wieder typisch lakonisch, beschreibt sie auch hier in gerade mal zwei Sätzen, dass sie erst gar nicht glauben wollte, sie könnte wirklich traumatisiert sein, erst dem übereinstimmenden Urteil mehrerer Ärzte schenkt sie schließlich Glauben. Meine Eindrücke ihres jüngsten Buchs hier.
„Kriegsenkel“ – wirklich kein einfacher Begriff!
Maria Bachmann habe ich kürzlich in der WDR-Talkshow als Gast von Bettina Böttinger gesehen. Die Autorin war dabei sehr ruhig, fokussiert und überzeugend. Verblüfft hat mich Bettina Böttinger mit ihrem Eingeständnis, sie habe das Wort „Kriegsenkel“ bis jetzt noch nie gehört. Wirklich interessant! Auch, dass andere Gäste – wie Jürgen Becker und Frank Schätzing – zwar in Jahren geboren sind, mit denen sie durchaus zur Generation der Kriegsenkel gehören, aber übereinstimmend erzählten, Eltern und Verwandte seien sehr offen mit allen Themen, Ängsten und Bedrohungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs umgegangen. Nein, da war keine Spur möglicher Traumata! Das ist mag banal klingen, ist aber doch ziemlich wichtig, bedeutet es doch: Nicht jeder Mensch, der nach dem Krieg geboren ist, spürt diesen „Nebel“, trägt gar Spuren von (unerkannten) Traumata jahrzehntelang durch sein Leben.
Ich will außerdem auf keinen Fall verschweigen, dass die Deutschen hier zwar ihre ganz eigene Trauma-Geschichte haben. Dass all das Beschrieben aber keinesfalls ein Phänomen nur von Deutschen sein kann: unzählig viele Menschen anderer Nationen mussten – und müssen vor allem noch immer – Traumaerfahrungen machen. Dadurch wird das Thema aber nur umso wichtiger …
Und wie komme ich ins Gespräch? Wie geht es weiter?
Die Aufarbeitung der Kriegsenkel- Geschichte wird sicher noch eine ganze Weile brauchen. Aber es gilt auch, mal ganz andere Fragen zu stellen. Etwa: Wie komme ich eigentlich ins Gespräch? Mit meiner Mutter, mit anderen Verwandten? Wie können auch Urenkel der „Kriegskinder“ mit dem Thema umgehen? Und wie vermeide ich, dass sich die Verletzungen unbeachtet immer weiter in der Familienchronik fortpflanzen?
Die Gewinnerin des Grimme-Online-Awards 2019 heisst Katharina Krüger. Und ihr Blog „Sippenkitt“ macht vor, wie es funktionieren kann. Sippenkitt ist ein ungewöhnliches Blogprojekt, das genau das tut, was der Name sagt: Den Kitt für jene „Sippe“ zu bilden, die sich Familie nennt. Familie wird dabei weit gefasst: „Dazu zählen nicht nur Blutsverwandte, sondern alle angeheirateten, adoptierten, lieb gewonnenen Menschen, zu denen jemand ein familiäres Verhältnis entwickelt hat.“ Einen wichtigen Teil dieses Blogs bilden die Interviews von Katharina mit ihrer „Mutta“ – daraus sind sehr hörenswerte podcasts entstanden: „Mensch Mutta“. Die Interviewerin Katharina ist Journalistin und Autorin. Auf „Sippenkitt“ gibt sie auch Tipps für Eltern-Interviews. Ich finde es schön , dass das Thema „Generationeninterviews“ damit so spielerisch angegangen werden kann.
Ein weiterer, naheliegender medialer Zugang ist natürlich auch der Einsatz von Fotos. Etwa in dem Buch „Stille Post“ der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun: Das ist ein Buch mit 34 Fotografien. Aus dem Klappentext: „Familiengeschichten haben offene und verborgene Gesichter, sie werden auf laute und auf verschwiegene Weise von Generation zu Generation weitergegeben. Christina von Braun versucht die Botschaften zu entschlüsseln, die ihr vor allem durch die Frauen der Familie nach dem Muster der ‚Stillen Post‘ übermittelt wurden. Dabei verknüpft sie auf subtile, einfühlsame Weise eigene Erinnerungen, innere Zwiesprache mit den Verstorbenen und die reichen Quellen des Familienarchivs, wie Briefe, Tagebücher, unveröffentlichte Memoiren.“ Und, ja: Christinas Onkel war Wernher von Braun, der für Hitler und später die USA Raketen baute.
Weder in „Stille Post“ noch im „Sippenkitt“ taucht das Wort „Kriegsenkel“ auf. Genauso wenig bei Hanns Josef Ortheil, der dafür aber umso eindrücklicher beschreibt, dass aus ihm nur darum der Schriftsteller wurde, der er heute ist, weil seine Mutter jahrelang stumm war – und er mit ihr. Die Mutter, die am Ende nur einen Sohn hatte, war durch den kriegsbedingten Verlust von vier Kindern traumatisiert. Was natürlich nicht ohne Auswirkungen auf den einzigen Sohn blieb. Das beschreibt Ortheil unter anderem in „Der Stift und das Papier“, „Die Erfindung des Lebens“ – dabei geht es nie ausdrücklich um das Trauma der Kriegsenkel, sondern darum, wie sich Sprechen und vor allem Schreiben lernen, anwenden, nützen lassen.
Und das stimmt ohne Frage: Viele Menschen – und ganz besonders die „Kriegsenkel“ – konnten und können sich mit Hilfe des Schreibens aus der Enge befreien, die sie, oft genug nicht einmal bewusst, spürten. Jahrzehntelang. Und das trifft auf viele Menschen zu … Was einmal mehr zeigt, welche Kraft das Schreiben haben kann … Hab ich je was anderes behauptet? Menschen, die ihre Geschichte mit Hilfe eines Buchs (als Selfpublisher) aufarbeiten wollen, gehören zu meinen „Stammkundinnen und Stammkunden“ in der edition texthandwerk. Doch dieser Text hier soll wirklich kein Werbetext sein … Das Thema ist so umfassend wichtig …
Und was denkt ihr?!
Liebe Leserinnen, liebe Leser – natürlich interessiert mich an dieser Stelle brennend, wie ihr zum Thema „Kriegsenkel“ steht. Findet ihr, das Thema ist wichtig, nützlich, kraftvoll, eine Chance? Oder denkt ihr: „Blödsinn! Völlig überschätzt! Wir alle haben unsere Probleme, Verletzungen, vielleicht auch Traumata – dazu muss man aber wirklich nicht gleich nicht Kriegsenkel sein!“ Oder denkt ihr gar: „Auf diese Weise wird das sensible Thema ‚Traumata‘ völlig inflationär – das schadet eher, als dass es helfen könnte!“
2 Gedanken zu „Wenn Kriegsenkel schreiben …“
Ich bin eines diese Kriegsenkel, Mutter vertrieben und traumatisiert. Nicht wirklich fähig mit den Problemen des Lebens klar zu kommen. Das da was ist habe ich schon früh gespürt und mich damit beschäftigt. Bin vor drei Jahren das erste Mal in die Heimat meiner Vorfahren für längere Zeit gefahren und habe diese Orte erwandert. Ich hab den Schmerz und die Freude zugelassen und konnte jetzt mit 50 Jahren loslassen. Fühle mich das erste Mal frei, bin kein Kriegsenkel mehr sondern eine Frau mit 50 Jahren die noch viel vorhat.
Ganz herzlichen Dank für diesen Kommentar!
Und alles Gute, viel Erfolg und Freude bei dem, was du noch vorhast!!! Wer einmal durch ein tiefes Tal gehen musste, dem gelingt nachher manches besser. Klingt wie eine Nullachtfuffzehn-Weisheit, ist es für mich aber keineswegs…
Viele Grüße
Maria