Vor- und Rückblicke. Stühle, Gerüttel, Geschüttel, dazwischen und vorwärts …

Vor- und Rückblicke. Stühle, Gerüttel, Geschüttel, dazwischen und vorwärts …

Ein neues Jahr – wie schön! Tatsächlich liebe ich Anfänge. Das Noch-nicht-Wissen, das Gespanntsein, den völlig unbekannten Weg – irgendwohin, wenn ich noch gar nicht weiß, wohin er führen wird … Das war immer schon so. Und wird hoffentlich auch immer so bleiben, denn es ist der beste Nährboden für meine Neugierde – die ist mir wichtig. Oder ist sie der Grund dafür, dass ich Anfänge so mag? Keine Ahnung, spielt aber – glaube ich – auch keine Rolle.

Gleichzeitig liebe ich Rückblicke. Auch immer schon. Wo kommen wir her? Wo komme ich her? Was hab ich schon alles gewuppt, was gesehen, erlitten, worüber mich gefreut, was alles schon wieder (fast) vergessen?

Alte Spuren führen meistens irgendwohin. Wenn nicht, wird es melancholisch … Davor versuche ich inzwischen, mich zu hüten. Mit aller Kraft. Ganz sicher ein Zeichen meines Älterwerdens.

Früher hat mich die Melancholie magisch angezogen. Inzwischen habe ich sehr selten Lust, auf Friedhöfen umherzuschlendern.

Hab ich früher oft getan. Mit großem Vergnügen. Lust an der Vergänglichkeit, an der Melancholie. Kein Wunder – inzwischen kommt die Vergänglichkeit zu mir, da muss ich ihr nicht noch entgegenlaufen.

Vor und zurück

Was schreibe ich hier eigentlich? Wo soll das hinführen?! Ich habe gesagt: Vor und Zurück. Beides wichtig. Altes Jahr – neues Jahr, Ende von etwas, Beginn von etwas: kein Büro in Pulheim mehr, aber eine Wohnung in Oostende. Abbruch und Aufbruch. Deutschland und Belgien.

Das ist mein Jetzt – es ist ein Dazwischen.

Zwischen lang ersehntem Leben am Meer. Und dem seit über 20 Jahren gewohnten Leben im Rheinland.

Dazwischen

Dazwischen mag ich eigentlich gar nicht. Doch es ist die ewige Konstante in meinem Leben. Die werde ich wohl nie mehr los. Mit ihr begann alles: geboren zwischen zwei Kulturen (Irak und Ostdeutschland, also: Vater und Mutter), aufgewachsen in denkbar reichster, westdeutscher Umgebung, allerdings mitten in einer Familie, deren Haupternährer selbstständiger Musikwissenschaftler war: mein Großvater. Geld war manchmal da, manchmal nicht.

Arabisch und deutsch, ost- und westdeutsch, reich und nicht reich. Ehrlich: Ich wusste wirklich noch nie so recht, wo ich hingehöre … Und es hat Ewigkeiten gedauert, bis ich das auch nur annähernd laut, zusammenhängend sagen konnte. Verständlich machen. Weil ich immer dachte: versteht sowieso kein Mensch. So eine Geschichte, die gibt es ja sonst nirgendwo – wer soll das verstehen können?! Tausendmal schon wollte ich genau diese Geschichte schreiben. Tausendundeinmal habe ich kapituliert.

Zwischen Stühlen

Meine Rückblicke zum Jahresende haben mir mal wieder fast Vergessenes ins Bewusstsein gerückt.

Zwei Sachen stechen mir gerade regelrecht ins Auge:

Zum Beispiel, dass ich mal eine ganze Serie (oder noch ein Blog?!) geplant hatte. Name: „zwischen den Stühlen“. Oder doch lieber: „zwischen allen Stühlen“? Damit fings schon an: Ich konnte mich nicht entscheiden. Es ist immer ein einerseits – andererseits. Also zwei. Aber davon gibts in meinem Leben so viele, dass „alle Stühle“ vielleicht doch nicht so falsch wäre …

viele verschiedene Stühle

 

Wie auch immer: Das Projekt ist gestorben, bevor ich es beleben konnte. Wahrscheinlich auch, weil ich befürchten musste, auch hier mal wieder gegen alle Schubladen, alles Gewohnte, leicht Verständliche anreden zu müssen. Und wenn es nicht geht, mich vielleicht gar als Opfer sehen würde. Opfer der Umstände. Mich über mein Schicksal beschweren. Anderen auf die Nerven gehen. No way. Ist das Letzte, was ich will. Mach ich nicht. Ist unter meiner Würde. Also, meiner eigenen.

Am Ende ist es immer nur mein Ich, das zählt.

Dieser Satz klingt blöd.

Also sage ich lieber: Es ist mein Eigensinn, der zählt. Er umfasst alles. Und verträgt zur Not auch eine Million verschiedener Stühle …

Zwischen Identitäten

Zu diesen Gedanken passt das Zweite perfekt, was ich bei meinen Rückblicken ausgegraben habe: Ich hatte fast schon wieder vergessen, wie wichtig für mich das Buch Identitti von Mithu Sanyal war. Auch sie könnte sich das „zwischen allen Stühlen“ auf die Fahnen schreiben. Doch vor allem hat sie ein grandioses Buch genau darüber geschrieben. Darauf bin ich ein klein wenig neidisch.

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Okay, immerhin habe ich es geschafft, die wichtigsten Aspekte dessen, was mich beim Lesen regelrecht durchgeschüttelt hat, auf den Punkt zu bringen. Immerhin. Doch viel lieber wäre mir was ganz anderes …

Nach vorne!

Damit bin ich bei meinem Ausblick. Den Plänen für mein neues Jahr. Ich möchte es endlich schaffen, dieses Stühle-Wirrwarr meines Lebens verständlicher anzuordnen. So langsam müsste ich das doch hinkriegen! So langsam habe ich ein wenig Distanz dazu – Älterwerden sei Dank! Wunderbar sind all die jungen Menschen, die mit ihren verschiedenfarbigen Lebensgeschichten derzeit alles durcheinanderrütteln. Sich allerdings auch kaum vorstellen können, wie es war, das vor 60 Jahren schon erlebt zu haben …

Ja, es ist mal wieder eine kleine Mission. Macht nichts. Ich vergesse auch meine erste Mission nicht … Bin ich noch immer mittendrin. Eine Trilogie sind drei Bände, da führt kein Weg dran vorbei. Der letzte Band der Trilogie des Eigensinns fehlt noch immer. Der ist 2023 reif.

Und dann kann ich Buch Nummer vier angehen. Und das wird ganz anders. Mehr Ich. Kein Sachbuch. Mehr Gerüttel und Geschüttel. Aber auch: mehr Neugier auf mich selbst, meine eigenen Wege – egal, wie viele Stühle sich mir da wieder in den Weg stellen wollen …

Ja, mein 2023 wird aufregend. Beschließe ich jetzt einfach mal. Sieht aber auch wirklich alles danach aus, oder?

Und ihr so? Was ist euer ureigener Blick auf 2023?

Wie gesagt: Ich liebe meine Neugierde … Vor allem die auf die Geschichte(n) anderer Menschen.


Text und Fotos: Maria Al-Mana


 

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