Ilija Trojanow – Nach der Flucht. Meine ultimative Leseempfehlung zum Thema

Ilija Trojanow – Nach der Flucht. Meine ultimative Leseempfehlung zum Thema

Ilija Trojanow wurde 1965 geboren und hat schon viel erlebt. Der als Kind mit seinen Eltern aus Bulgarien Geflüchtete hat unter anderem in Deutschland, Kenia, Paris, Bombay, Wien und Kapstadt gelebt. Der Mann hat vieles angestoßen, ist offensichtlich immer wieder aufgebrochen – und bleibt doch wie die meisten Menschen mit Fluchtgeschichte immer auf der Suche. Nach? Ja, nach was? Da fängt es schon an. Mir fällt es schwer, in solchen Zusammenhängen das Wort „Heimat“ zu benutzen. Oder gar „Angekommensein“. Dafür ist mir einfach zu klar, dass Ankommen und/oder sich „heimatlich“ fühlen, nie gegen die Verluste ankommen können, die eine Fluchtgeschichte für den Rest eines Lebens fast immer nach sich ziehen. Die natürlich alle Geflüchteten anders erleben. Die in ihrem Erinnern, Denken und Fühlen einen unterschiedlichen, unterschiedlich hohen Stellenwert haben. Doch ich bin ganz sicher: Schmerz ist immer dabei. Darum widerstrebt es mir, solchen Gefühlen eine Art Pflaster aufzudrücken. Und Heimat wie Angekommensein können solche Pflaster sein.

Respekt vor Individualität

Das war sozusagen meine Präambel zu allen Fluchtgeschichten, die ich kenne (zwei davon sogar sehr haut-nah) und gelesen habe. Unterm Strich will ich sagen: Ich nähere mich ihnen mit höchster Vorsicht. Manchmal sogar mit Angst vor dem, was mich erwarten könnte. Und immer mit so viel Respekt vor jeder Individualität, wie mir jeweils möglich ist.

Diese „Präambel“ fand ich nötig, um zu erklären, warum mich „Nach der Flucht“ regelrecht geflasht hat. Dieses Buch ist nämlich – aus meiner Sicht-  gerade NICHT individuell. Und darum liebe ich es: Es zeigt Mechanismen auf, die jenseits von Person und Land, Zeit und Umständen funktionieren. Wäre ich Mathematikerin, könnte ich daraus vermutlich so etwas wie eine Formelsammlung von Schmerz, Verlust, Verstörung und „Errettung“ destillieren. Bin ich aber nicht. Und das ist auch gut so, denn Trojanow bezieht sich mit diesem schmalen Buch sowieso auf etwas ganz anderes. Auf einen Bilderzyklus, den der afroamerikanische Künstler Jacob Lawrence als „The Migration of the American Negro“ 1941 begonnen hatte. 1993 nannte er die 60 mit Temperafarbe bemalten Hartfaserplatten in „The Migration Series“ um. Das ist der Titel, auf den Trojanow sich bezieht. Die Bilder zeigen den schwarzen Exodus aus dem armen Süden der USA in den industrialisierten Norden, Rassismus und Strapazen, Armut und Rasseunruhen … Kurz: Mit „Nach der Flucht“ bezieht Trojanow alles mit ein, was sich rund um das Thema Flucht auch nur ansatzweise denken lässt.

Von Verstörungen und Errettungen

Damit ist dieses Buch für mich die Klammer um alle individuellen Einzelaspekte der Fragen nach Heimat, Zugehörigkeit, Fremdheit und der Möglichkeit, Fixpunkte und/oder Veränderungen zu schaffen. Trojanow bringt das Kunststück fertig, spürbar nah am Thema zu sein – oft schmerzhaft nah – und trotzdem nie das Wort „Ich“ zu verwenden. Sein Text besteht aus einer angenehm durchkomponierten Anzahl von Einzelbetrachtungen in zwei Teilen: „Von den Verstörungen“ und „Von den Errettungen“. Besonders erstaunlich finde ich, wie ihm dieses absolut persönliche Erzählen ohne Ich gelingt, wie er damit einen Text verfasst, der über-national, unbegrenzt, kaum zeitgebunden und allgemeingültig wahr ist. Erzählt wird in mikroskopisch kleinen Einzelbetrachtungen. Doch ich weiß genau: Diesen Mini-Texten können sich ungeheuer viele Menschen anschließen, sie wecken Emotionen, die weit über Einzelne hinausgehen. Und die doch im ‚Ich‘ unzähliger Menschen zutiefst verwurzelt sind.

Ein Brevier!

Und ich vermute: Auch für jene, die selbst keine Fluchtgeschichte haben, kann dieses Buch zu einem Brevier werden, das sich immer wieder vornehmen lässt. Jede Einzelbetrachtung kann eine Vorlage zum Nachdenken werden, jedes Zitat könnte sich festsetzen, jede Textstelle könnte angemarkert, an die Wand gepinnt, irgendwohin geritzt werden. Dass das stimmt, sehe ich an meinem eigenen Leseverhalten: Ich, die ich sonst Bücher mit Eselsohren und Anmerkungen malträtiere, habe in diesem Fall eins der wenigen Bücher, das noch nach mehrmaligem Lesen rundum davon verschont bleibt. Nicht, weil mir nicht unter die Haut geht, was ich da lese. Sondern weil es gar keine Abstufungen nach „besonders gut“, „besonders wichtig“, besonders merkenswert“ gibt. Ich finde schlicht alles gut, wichtig und merkenswert. Das ganze Buch gleicht für mich einer Essenz aller Gedanken zum Thema Flucht.

Erschienen bei S. Fischer. Dort kann es auch bestellt werden. Und überall sonst, wo es Bücher gibt.

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Und noch ein Tipp: Weil der „Kaffeehaussitzer“, Uwe Kalkowski, einen ähnlichen Blick auf das Buch hat wie ich, aber zudem noch eine Lesung von Trojanow live erlebte, möchte ich das gern ergänzen: „Das Publikum im Kölner Literaturhaus lauschte gebannt dem Gespräch zwischen Ilija Trojanow und Peter Sillem, dem ehemaligen Programmgeschäftsführer der S.Fischer-Verlage, der den Abend moderierte. Selten erlebt man einen derart persönlichen Einblick in das Schaffen eines Schriftstellers.“ Der komplette Text hier. 

 

In eigener Sache

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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

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