Lilly Liebig: Glasperlenwicklerin mit großem Traum

Lilly Liebig: Glasperlenwicklerin mit großem Traum

Ich kenne so viele wunderbare ältere Menschen … ehrlich: Das macht mich glücklich! Eine davon ist Lilly Liebig – sie hat keinen Blog. Und trotzdem möchte ich sie unbedingt hier vorstellen.

Zum ersten Mal hörte ich von ihr auf einem Markt voll mit hochkarätigem Kunsthandwerk. Da traf ich sie zwar noch nicht selbst, aber eine Kollegin gab mir den dringlichen Tipp, sie doch mal zu kontaktieren. Als ich dann „Lilly Liebig“ recherchierte, war ich überzeugt davon, dass die Frau sich einen sehr clever passenden Künstlernamen zugelegt hatte: Wenn ich sie in ihrem Glas-Studio in Köln-Ehrenfeld besuchen wollte, müsste ich Haltestelle Liebigstraße aussteigen. Und das Atelier liegt in der – tja – Glasstraße! Und sie ist Glaskünstlerin, Glasperlenwicklerin und viel mehr. So viel wusste ich schon. Und doch, wie so oft, dauerte es noch ein bisschen – und dann nahm sie Kontakt zu mir auf: Wir hätten doch so viele Gemeinsamkeiten, schrieb sie mir auf Facebook. Gar keine Frage: Ja, stimmt!

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Erst einmal ist sie Seniorenvertreterin der Stadt Köln für den Bezirk Ehrenfeld. Wie ich interessiert sie sich also für ältere Menschen, was die so tun, was sie umtreibt – und wie sie sich tabulos, sinnvoll, mit Leidenschaft und weiten Blicken über den eigenen „Tellerrand“ engagieren können. Das wurde mir spätestens klar, als ich sie endlich in Ehrenfeld traf: Die Frau kann nicht über die Straßen gehen, ohne von sehr vielen Menschen äußerst freundlich begrüßt zu werden. Außerdem kann sie an jeder zweiten Straßenecke erklären, warum das jetzt ausgerechnet dort steht, wie dieses oder jenes entstanden ist … Sie ist in „ihrem Veedel“ zu Hause – gar keine Frage. Auf ihre Initiative hin fand auch schon mal ein Rockkonzert im Seniorenzentrum für junge und ältere Menschen gemeinsam statt – „da waren alle baff. Und sehr begeistert“, erzählt sie.

Ziel: „direkte Wissensweitergabe“

Und die Sache mit dem Glas, die hat es wirklich in sich. Wie ich, ist auch Lilly Liebig zu hundert Prozent davon überzeugt, dass das Handwerk unendlich viel nützliches, praktisches und unwiederbringliches Wissen in sich vereint. Das wurde über die Jahrtausende entwickelt, verbessert, weiterentwickelt, genutzt und gepflegt. Und droht jetzt an so vielen Stellen sang- und klanglos zu verschwinden. Eine Schande! „Warum haben wir eine so lange Ausbildungszeit in allen handwerklichen Berufen?“ fragt sie mich. Als ich nicht sofort antworte, legt sie voller Leidenschaft nach: „Damit alle Jüngeren den Meister/innen so lang wie möglich über die Schultern schauen, von ihnen lernen können. Die direkte Wissensweitergabe war immer zentraler Bestandteil des Handwerks. Vor allem die Praxis zählt. Und die muss weitergegeben werden!“ Das ist für Lilly Liebig unverhandelbar. Schließlich kommt sie aus einer sehr alten Tradition. Und bietet in kleinerem Rahmen selbst Kurse an – doch das genügt ihr noch lange nicht … Sie träumt von sehr viel mehr.

„Glas ist wie ein Gecko!“

Doch der Reihe nach: Eigentlich ist Lilly ja gelernte Goldschmiedin … aber schon während ihrer Ausbildung „streckte das Glas seine Zunge nach mir aus“, grinst sie, während ich noch versuche, all die vielen Stationen der umtriebigen Frau zwischen Allgäu, Köln, Tunis und Rom auf die Reihe zu kriegen. „Ja, Glas ist wie ein Gecko – die Liebe zum Glas hat mich eingefangen wie der Gecko eine Fliege. Ich bin nie mehr davon losgekommen“, sagt sie und erzählt mir dann, dass diese Liebe schon sehr früh begann. Schon während ihrer Ausbildung zur Goldschmiedin. Weil das ja gut zusammenpasst, weil sie gern zu Ende bringt, was sie begonnen hat, macht sie 1971 den Abschluss als Goldschmiedin an der staatlichen Fachschule für Glas und Schmuck in Kaufbeuren, in „Neugablonz“. Und dann kam 35 Jahre lang mal eben „das Leben dazwischen“: Da schleppte sie eine riesige Schatzkiste voll mit handgewickelten Glasperlen quer durch die Welt, arbeitete in verschiedenen Berufen, ehe sie 2006 zu „ihrem Glas“ zurückfand. Dann meldete sie sich bei ihrer alten Schule in Neugablonz und bekam sofort Rückendeckung: „Schön, dass du wieder da bist! Mach bloß weiter!“ Das ließ sie sich nicht zweimal sagen.

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Glaskunst Ehrenfeld: Lilly Liebig

Lilly bringt das Glas zurück nach Ehrenfeld

In Köln hatte sie mehrere Geschäfte, etwa im Belgischen Viertel und in Rodenkirchen, bevor sie im Jahr 2011 in der Ehrenfelder Glasstraße die für ihr Handwerk so ideale Adresse fand. Denn es ist nicht nur ein Name, es ist weit mehr als das: „Ich habe das Glas zurück nach Ehrenfeld gebracht“, sagt sie – nicht ohne berechtigten Stolz. Denn es ist wahr: Noch 1913 waren in Ehrenfeld drei Glashütten in Betrieb, von 1930 bis 1937 nur noch eine, dann war Schluss mit den Ehrenfelder Glashütten. Aber der Straßenname erinnert noch daran. Und einige Museumsstücke, schließlich arbeiteten im Bereich der Gebrauchsglaskunst so berühmte Künstler wie Oskar Reuter, Peter Behrens oder Erich Kleinhempel für die Ehrenfelder. Und doch kommt auch da Lilly Liebig wieder ins Spiel: „Wenn ich was wissen will, bin ich wie ein Schwamm“, sagt sie – und erzählt so ganz nebenbei, dass diese Wissbegier sie unter anderem dazu brachte, ein Archiv der letzten Ehrenfelder Glashütte anzulegen: „Jetzt sind die  Kopien der alten Preislisten und Bilanzen der Ehrenfelder Glashütte aus den 30-er Jahren bei mir – eine kleine Dokumentation über das Ende. Komischerweise schien mir gerade das ein Zeichen, hier willkommen zu sein.“ 2017 ließ sie sich dazu überreden, als Seniorenvertreterin in Ehrenfeld zu kandidieren, wurde auf Anhieb gewählt – und zwar mit sehr gutem Ergebnis.

Auch das Stichwort „Neugablonz“ ist historisch nicht unwichtig, denn Gablonz in Nordböhmen war bis zum Zweiten Weltkrieg einer der größten, einflussreichsten Glas- und Mode-Schmuckherstellungsorte Europas. Firmen wie Swarowski und Riedelglas haben dort ihren Ursprung. Neugablonz wurde 1946 von aus Böhmen vertriebenen Handwerker/innen gegründet und zwar auf dem Ruinenfeld eines Munitionsgeländes in Kaufbeuren.

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Lilly Liebig – früher und heute

Wie gesagt: Genau dort wurde Lilly zur Goldschmiedin. Was sie aber nie daran hinderte, noch während ihrer Lehre mindestens dreimal die Woche bis spät in der Nacht, bis der Hausmeister sie rausschmiss, unter die „Gürtler“ zu gehen. Gürtler, das sind Handwerker/innen, die aus Metall, Glas, Holz und anderen Materialien Beschläge – auch für Gürtel -, Modeschmuck und kunstgewerbliche Gegenstände formen. In Lillys Fall hieß das: Glasperlen wickeln. Das war während ihrer Ausbildung leider nur ein Nebenfach … aber da war ja dieser Gecko. Und der ließ sie nie mehr los.

„Nur mit Geduld und Freundlichkeit“

Glasperlenwickeln ist ein sehr spezielles Handwerk: Bei etwa 800 Grad wird das dann zähflüssige Glas, das vorher meist eine lange, eher langweilige Glasstange war, um einen Metallstab zur Perle gewickelt. Auch diese Glasstangen sind etwas Besonderes: Sie brauchen ganz bestimmte Eigenschaften, um sich so bearbeiten zu lassen. In Deutschland werden sie kaum noch hergestellt. Das Perlenwickeln braucht also extrem viel Erfahrung, Praxiswissen, Geduld und Fingerspitzengefühl. Lilly kann das wunderbar plastisch beschreiben: „Glas ist eine sehr eigenwillige Persönlichkeit, nicht selten regelrecht eifersüchtig. Während ich arbeite, halte ich Zwiesprache mit ihm, streichle es – wörtlich wie bildlich – und weiß genau: Mit Gewalt geht da gar nichts. Nur mit Geduld und Freundlichkeit.“

Handwerk vor dem Aussterben bewahren!

 Ich durfte Lilly dabei beobachten. Und habe gesehen: Es ist eine regelrecht meditative Arbeit. Lilly geht ganz und gar im handwerklichen Fertigungsvorgang auf – weiß sie doch nur allzu genau: Das Endprodukt wird ein absolutes Unikat. Und eine Kette beispielsweise besteht dann aus vielen einzelnen Unikaten – die aber doch zusammenpassen, zusammenfinden müssen. Dafür hat Lilly Liebig genauso ein „Händchen“ wie für die Arbeit an ihrem Spezialbrenner, einem gasbetriebenen, ziemlich raren Original aus Neugablonz, dem „böhmischen Lampenfeuer“. Dass sie individuellen Schmuck, ganz und gar auf die Träger/innen abgestimmt, anfertigt, versteht sich da fast schon von selbst.

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„ungewickelte“ Glasstäbe …

Kurz: Sie liebt das Handwerk, ihr Handwerk, in all seinen Facetten, darum firmiert sie heute unter „Glasschmuck aus Köln – Traditionelles Kunsthandwerk mit modernem Design“. Nur Schmuck? Nein, dazu ist sie viel zu leidenschaftlich bei der Sache. Sie fertigt Glaskunst. Das können ebenso Objekte mit 3D-Effekt sein, „optische Täuschung“ nennt sie das, mit kleinen Lämpchen, im Verbund mit Holz zum Beispiel. Sie ist kreativ. Und zwar so kreativ, dass die den Wettbewerb auf der Glasstec („Internationale Fachmesse für Glas, Glasherstellung und -produktionstechnik, Glasbearbeitung und -veredelung, Glasprodukte und -anwendungen“) ausrichtende Innung ihr zuliebe auch schon mal Fristen verschob.

Glasperlenwickler/innen gibt es heute nicht mehr viele, 1970 wurde die handwerkliche Ausbildung im Zuge einer Berufsreform ersatzlos gestrichen. Schon 2009 erzählte Lilly Liebig einer Journalistin, sie fühle sich dazu „berufen, dieses Handwerk vor dem Aussterben zu bewahren.“ Aber sie geht noch einen Schritt weiter: Heute träumt sie davon, ihre beiden „großen Themen“, das Älterwerden und das Praxiswissen des aussterbenden Handwerks, zusammen zu bringen, es ganz praktisch und sinnvoll in einer Gemeinschaft zu leben. Es geht um ihr großes, neues Projektziel, einen Handwerkerhof – darüber schreibe ich als Texthandwerkerin hier.

Wer sich für weitere Porträts kreativer Handwerker/innen interessiert, findet hier mehr. 


Ich freue mich, wenn ihr diesen Beitrag in die Welt tragt ... danke!

5 Gedanken zu „Lilly Liebig: Glasperlenwicklerin mit großem Traum

  1. Eine schöne, liebevolle Beschreibung einer tollen, mitreißenden Frau, die nicht nur eine wunderbare Glasfrau ist, sondern deren Herz für ihre Mitmenschen schlägt.
    Isolde Ahr

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