Älterwerden, Eigensinn & Schreiben? Passt! Beispiel Ingrid Noll
Vermutlich kennt ihr Ingrid Noll … Oder? Das ist die freche Autorin, die mit Mitte 50 begann, so etwas wie Krimis zu schreiben. „So etwas wie Krimis“ darum, weil sie selbst sagt, dass sie eigentlich weniger Krimihandlungen, sondern eher „Menschengeschichten“ schreiben wolle. Das hat sie beispielsweise Roger Willemsen 2009 in einem Interviewe auf „Zeit online“ erzählt: all ihre Bücher seien „Menschengeschichten mit kriminellem Sahnehäubchen“. Das ist eine ganz eigene Selbstpositionierung der Ingrid Noll. Und genauso eigensinnig, wie sie schreibt, was sie schreiben muss, tun ihre Protagonistinnen, was sie tun müssen – und wenn es eben das Morden ist. Oft fein ausgeklügelt, noch nie dagewesen, manchmal einfach so, en passant oder eher aus Zufall. Fast immer wird das aus der Perspektive der Täterin erzählt – was ja in Krimis normalerweise selten geschieht. Auch da hat Ingrid Noll ihren durch und durch eigenen Stil.
Hat das jetzt was mit dem Älterwerden zu tun?
Ja und nein. Sie begann mit dem Schreiben – einfach so. Weil sie Lust darauf hatte, weil ihre Lebenssituation das jetzt endlich zuließ. Seitdem erscheint im Schnitt alle zwei Jahre ein neues Buch von ihr. Ja, es war der Moment, als die Kinder „aus dem Haus“ waren, der Zeitpunkt, an dem sie es sich auch finanziell leisten konnte, alles auf die Risikokarte „Jetzt will ich vom Schreiben leben!“ zu setzen. Das alles HAT mit dem Älterwerden zu tun.
Gar nichts dagegen hat die Tatsache, dass das auch auf Anhieb geklappt, mit den 55 Jahren zu tun, die Ingrid Noll beim Erscheinen ihres ersten Buches alt war. Keine lange Verlagssuche und es wurde auch noch prompt verfilmt: „Der Hahn ist tot“, so sein Titel. Doch Noll betont in fast allen Interviews, was für großes Glück sie gehabt habe, dass das von Anfang an so unglaublich gut geklappt hat. (Ihr „Hausverlag“ ist übrigens Diogenes in Zürich … Alles andere als eine schlechte Adresse …) Heute sind all ihre Bücher übersetzt – und in mehr als 27 Sprachen zu lesen. Ja: Glück war da sicher mit im Spiel.
Älterwerden und Eigensinn
Aber die Frau kann auch einfach schreiben. Sie hat ihren ganz eigenen, eher lakonischen Stil. Und eine ganz eigene Weltsicht. In der müssen – vor allem Frauen – immer genau das tun, was sie dann tun. Und das hinterlässt nicht selten völlig ungeplant Tote. Das hat zugleich etwas fast Flapsiges, aber immer auch Ernstes – „Menschengeschichten“ eben. Die wir mehr oder weniger alle gemeinsam haben. Auch, wenn wir uns das eher selten eingestehen wollen. Welche Frau gibt schon gerne zu, dass jederzeit auch eine Mörderin aus ihr hätte werden können – oder noch werden könnte?!
Meiner Ansicht nach ist das die Weltsicht einer Frau, die schon so viel erlebt hat, dass sie jetzt einfach sagt: „Mir doch egal, was ihr davon haltet!“ Damit ist sie so unglaublich souverän, dass man ihr schwerlich böse sein kann. Selbst eingefleischte Krimifans nehmen ihr offensichtlich nicht übel, dass man in ihren Büchern immer genau weiß: Wer war die Täterin? Nicht selten erzählt die ja selbst haarklein, wie und warum sie mordet …
Dazu kommt: Beim Lesen glaube ich manchmal, Frau Noll vor sich hinkichern zu hören … Mit anderen Worten: Ich bin sicher, dass ihr großen Spaß macht, was sie da tut. Das ist einerseits ansteckend. Andererseits vermittelt mir die Autorin damit: „Ich bin in meiner eigenen Welt. Da bin ich ganz unabhängig und tue/schreibe, was ich will.“
Ingrid Noll hat eine Haltung:
- Sie will Menschen, vor allem Frauen, verstehen. Sie sichtbar machen. Auch noch mit ihren dunkelsten Fantasien.
- Sie schert sich – wie viele ihrer Protagonistinnen – keine Sekunde lang darum, was „die anderen“ von ihr denken. Autorin wie Protagonistinnen machen ganz einfach, was sie tun müssen.
Gut, ich gehe jetzt nicht so weit zu sagen, dass Morden „sinnvoll“ sei … Aber das Prinzip ist klar: Ingrid Noll und ihre Protagonistinnen tun das, was für sie das einzig Sinnvolle ist. Was sie tun müssen. Handeln, wie sie handeln, weil sie nicht anders können – eigensinnig eben. Dass das so oft im Mord endet, treibt das Prinzip einfach nur auf die Spitze – nicht selten mit einem Augenzwinkern, immer ohne Moral-Keule. Wer Nolls Bücher liest, kann all das genießen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Selbst, wenn man/frau sich vorübergehend mit einer Mörderin identifizieren sollte, sie wenigstens sympathisch findet. Wir wissen immer: Hier tut Literatur das, was (fast) nur Literatur kann: verborgene Räume und Gedanken vorübergehend sichtbar machen. Und zwar ganz und gar eigensinnig.
Eigensinnig?! Ja, das ist mein Begriff dafür. Und für mich ist „du bist eigensinnig“ ganz klar ein Kompliment. Erst recht natürlich, wenn es mich mit Ingrid Noll in Bezug setzen kann. Denn ich liebe und bewundere diese Frau. Für ihre Unerschrockenheit, ihren Mut. Und ihren Eigensinn.
(Und sowohl das Schreiben wie das Eigensinnig-Sein funktionieren natürlich auch in jüngeren Jahren. Sehr viel besser aber offensichtlich doch mit dem Älterwerden … Glaube ich jedenfalls.)
Eigensinnig selbst schreiben
Und noch kurz in eigener Sache: Ich betreue schon seit einiger Zeit Menschen – gleich welchen Alters, die selbst schreiben und publizieren wollen. Mit oder ohne Eigensinn. Infos dazu findet ihr unter www.buchhebamme.de und der www.edition-texthandwerk.de
Tatsächlich wird der Eigensinn mehr und mehr zu MEINEM Thema …
Hinweis in eigener Sache
Ich bin überzeugt davon, dass für jede Art von geplantem Buchprojekt der Eigensinn der weltbeste Kompass ist, den wir finden können. Warum, wie das geht und wer es schon erfolgreich vorgemacht hat, beschreibe ich im ersten Band meiner Trilogie des Eigensinns. Und auch das Älterwerden ist dort immer wieder Thema.
3 Gedanken zu „Älterwerden, Eigensinn & Schreiben? Passt! Beispiel Ingrid Noll“
Hallo Maria heute habe ich mich endlich wieder mal umgeschaut auf Blog50plus. Es gibt so viel interessantes zu entdecken. Ingrid Noll´s Bücher habe ich auch gelesen und mich sehr amüsiert. Und man sieht es ist nie zu spät mit dem Schreiben anzufangen. Liebe Grüße Gabi von lovemylife
Liebe Gabi,
ha! Das freut mich. Sehr sogar!
Ganz herzlichen Gruß
Maria