Umbrüche ohne Ende oder: Ist das wirklich mutig?

Umbrüche ohne Ende oder: Ist das wirklich mutig?

Der Satz, den mein Mann und ich im Moment wohl am häufigsten hören, ist: „Ihr seid aber mutig!“

Das hat mich erst einmal irritiert. So hatte ich das gar nicht wahrgenommen. Denn ich gehe nach wie vor davon aus, dass das Leben eine Aneinanderreihung von Umbrüchen ist. Oder alles stagniert – und wer will das schon? Sollte auch mit über 60 Jahren meiner Ansicht nach nicht passieren …

Unser jüngster Umbruch ist ein Umzug …

Die Sache ist die: Wir werden knapp drei Jahre vor unserer Rente unser Leben noch einmal komplett umkrempeln. Bedeutet: Die Wohnung, in der wir ein Vierteljahrhundert, also 25 Jahre, wirklich glücklich waren, werden wir aufgeben und knapp 200 Kilometer entfernt an die Mosel ziehen. Das sagt jetzt noch nicht allzu viel. Doch es geht tatsächlich vor allem um unsere Rentensicherung. Denn wir werden diese teure Wohnung in der Nähe von Köln vermieten. Und das Leben an der Mosel ist definitiv billiger als im Raum Köln.

Dieser Umzug lohnt sich also, er wird unsere Rentenlücke schliessen. So gesehen, haben wir, indem wir diese Wohnung abbezahlt haben, in unsere Rentensicherung investiert. Und das muss sich jetzt auszahlen. Ob wir nun wollen oder nicht.

Mut zur Lücke

Es ist also weniger der Mut zu etwas Neuem, der uns da in erster Linie antreibt. Sondern der Mut zu einer Lücke. Das Aufgeben dieser Wohnung, in der wir so lange gelebt, vor der wir jede Menge Rosen angepflanzt haben, innen jeden noch so kleinen Winkel als Stauraum nutzbar gemacht, diese Wohnung, die wir uns quasi direkt auf den eigenen Leib geschneidert haben, die ist mit uns gewachsen. Fast sogar zusammengewachsen. Die jetzt aufzugeben, ist alles andere als leicht. Da entsteht eine Lücke .. Ach, was sage ich? Viele Lücken.

Seit Wochen werfe ich Dinge weg, finde Ecken, in denen ich alte Erinnerungen gestapelt habe – an die ich allerdings seit über 20 Jahren gar nicht mehr gedacht habe. Das kann weg, das muss weg und tut doch weh.

Als wir hier eingezogen sind, habe ich wirklich gedacht, wir bleiben hier bis wir sprichwörtlich mit den Füssen voran rausgetragen werden. Da habe ich das Gesetz der Umbrüche nicht gesehen, nicht sehen wollen. Denn Umbrüche bedeuten auch Lebendigkeit. Und inzwischen weiß ich: Lebendigkeit und Eigensinn sind fast Synonyme. Mein Band 3 der Trilogie des Eigensinns handelt exakt davon ….

Nein, ich schweife nicht ab. Es geht um Umbrüche. Auch die sollten sinnvoll sein. Und notwendig. Umbruch aus Jux und Dollerei war noch nie mein Ziel.

Vielen Umbrüchen geht ein längerer Prozess voraus

Bei uns sind es also vor allem wirtschaftliche Überlegungen, die den Wohnungswechsel vorantreiben. Aber auch Nachbarschaftsverhältnisse. Die sich leider nicht zum Besseren entwickelt haben. Das ist ein Prozess, der mich schon seit längerem traurig macht.

Denn es fühlte sich hier, in dieser Nachbarschaft, mal richtig gut an. Es gab einen wunderbaren Zusammenhalt. Den gibt es es schon seit einer Weile nicht mehr. Vielleicht begann da der erste Gedanke an einen größeren Umbruch. Wenn ich merke, dass mir etwas nicht mehr guttut, sollte ich es abbrechen. Gehört dazu Mut? Vielleicht. Zumindest der Mut, sich einzugestehen, dass Dinge sich anders entwickelt haben, als wir gehofft hatten.

Diese Wohnung war 25 Jahre unser Zuhause. Wir werden sie jetzt aufgeben. Ja, das ist ein heftiger Umbruch. Sogar ein Einschnitt. Und er tut weh.

Wie das bei Umbrüchen immer so ist, gibt es aber auch bei uns die andere Seite: Etwas Neues beginnt. An der Mosel ist es richtig schön. Wir haben neue Möglichkeiten. Neue Landschaften, neue Blicke. Lernen neue Menschen kennen, planen schon hunderte von Ausflügen in die nähere Umgebung. Mein Mann träumt davon, in einen Ruderclub einzutreten. Ich überlege, ob ich in eine demokratische Partei eintrete. Betonung auf Demokratie. Das wiederum hat mit den Umbrüchen in unserer Gesellschaft zu tun. Wer darauf nicht reagieren kann, hat meiner Ansicht nach schon verloren. Ich möchte darauf reagieren.

Ist das mutig? Finde ich nicht. Eher eine Notwendigkeit.

Und was geschieht beruflich jetzt?

Eher Glücksfall als Mut war die Tatsache, dass mein Mann, der angestellt ist, für die letzten drei Jahre seines Berufslebens tatsächlich einen neuen Job gefunden hat. Einen, bei dem er seine Arbeitsstelle in fünf Minuten erreichen kann. Statt wie bisher eine Stunde hin und eine Stunde zurück fahren zu müssen. Das ist gewonnene Lebenszeit. Für uns beide.

Ich für meinen Teil überlege, ob ich nicht diese überaus mühsame Selbstständigkeit aufgeben und noch mal ganz was anderes machen soll. Auch das finde ich nicht sonderlich mutig. Denn ich habe mein Leben lang ständig Arbeitgeber, Arbeitsort und -thema, Perspektiven, Selbstständigkeit und Angestelltendasein gewechselt. Hin und her.

Wenn ich sage, ich bin ein flexibler Mensch, stimmt das sicherlich. Hat immer schon gestimmt und stimmt auch noch mit über 60 Jahren. Darum halte ich das weniger für Mut als mehr für die Beständigkeit des eher unsteten Lebens, das ich immer schon hatte.

Ist das alles nicht riesiger Luxus?!

Definitiv: ja! Es ist ein riesiger Luxus, dass wir uns diesen Umbruch überhaupt leisten können. Das ist uns sehr bewusst. Und wir sind von ganzem Herzen dankbar dafür.

Ein bisschen fügt sich da aber auch eins ins andere … Wir haben 60 Jahre lang nicht in Luxus gelebt, ganz und gar nicht. Vielleicht ist ja genau das unser wahrer Umbruch …

Fazit

Umbrüche sind notwendig, um die eigene Lebendigkeit zu erhalten. Wenn sie dann auch noch wirtschaftlich Sinn machen – umso besser. Wer das mit Leben füllen kann, sollte es unbedingt tun. Denn auch unabhängig von wirtschaftlichen Aspekten ist jeder Umbruch ein Gewinn … an neuen Perspektiven, Möglichkeiten, Bildern, Ideen.

Umbrüche tun aber auch weh. Darum gehört wohl schon ein bisschen Mut dazu. Tatsächlich fielen sie mir leichter, als ich noch jünger war. Jetzt wird an manchen Stellen dieser Klebstoff dichter, der mich an meine Hoffnungen gekittet hat … Aber wer will schon an zäh gewordenem Klebstoff haften bleiben?! Ich nicht.

Nachtrag

Die wunderbare  Annette Mertens hat mit mir inzwischen auch noch in Interview in ihrem Blog, den Ruhrköpfen, zum Thema Neuanfang geführt. Das hat die ganze Sache noch mal aus ganz neuen Blickwinkeln beleuchtet – es war mir ein Vergnügen – nachzulesen hier.

Und weil sich Dinge wirklich STÄNDIG ändern, war es mir ein Bedürfnis, das alles ein weiteres Mal aus Sicht all der Änderungen zu betrachten … nachzulesen hier.

Wie ist das bei euch?

Haftet ihr auch stellenweise an „altem Klebstoff“? Fallen euch Umbrüche im Älterwerden schwerer oder leichter? Findet ihr, dass dazu Mut gehört? Mögt ihr davon erzählen? Würde mich sehr freuen!


 

5 Gedanken zu „Umbrüche ohne Ende oder: Ist das wirklich mutig?

  1. Liebe Maria,

    puuh. Da hat sich ja schon einiges bei Euch getan und noch mehr steht an. Das wird alles sicher nicht leicht. Aber ich finde es toll, dass Du es als Luxus siehst, diesen Umbruch angehen zu können. Die Frage, wie und wo man sich im Älterwerden häuslich einrichtet, ist eine der größten Fragen, die wir für uns beantworten müssen. Ich drück Euch die Daumen, finde aber, das hört sich alles gut an. Angefangen mit der deutlichen Erleichterung für Deinen Mann – das macht soviel aus an Lebensqualität, wir haben genau dieses Thema auch durch. Und wenn Eure Nachbarschaft sich ungut verändert, dann ist es vielleicht leichter, einen Neuanfang zu starten als immer bedauernd auf das zu schauen, was war und jetzt nicht mehr ist. Ein ganz aufrichtiges Glückauf aus dem Ruhrgebiet und liebe Grüße Britta

    1. Ach liebe Britta, danke!

      Und ich glaube fast, du hast hellseherische Qualitäten … Mein Mann kommt aus dem Ruhrgebiet. Das „Glückauf“ wird ihn freuen, ich richte es aus …

      Ansonsten hast du mir allem Recht: Ja, PUH! Ist ganz schön viel … Im Moment erscheint auch noch mein neues Buch (werde berichten) und Mittwoch kommt der Umzugswagen.

      Vor allem aber freue ich mich, dass du es dir in und mit deinem Blog „häuslich“ machen wirst. Das ist meiner Ansicht nach ein Stück Unabhängigkeit.

      Wir lesen uns!
      Liebe Grüße
      Maria

  2. Dieses Jahr werde ich 70 und es würde mir sehr schwer fallen, die (Miet-)Wohnung zu verlassen, in der ich seit 2003 wohne! Es kann mich aber jederzeit die Verdrängung treffen, Umwandlung in Eigentumswohnungen, Eigenbedarf – wird hier in der Gegend häufig praktiziert.
    Dass ich an der Wohnung hänge, hat auch den Grund, dass es „fußläufig“ nur 15 Min zu meinem Liebsten sind – und es ist quasi unmöglich, in diesem Bereich eine andere bezahlbare Wohnung zu finden. Ich „klebe“ auch dank Altmietvertrag! 🙂
    Grundsätzlich denke ich, Umbrüche sind in jedem Alter möglich, sofern mensch noch nicht zu gebrechlich ist. (Dafür übe ich in einem Fitnesscenter, was mir gut tut: https://www.claudia-klinger.de/digidiary/2023/10/28/flucht-in-die-koerperwelten-im-fitness-center/).
    Bin gespannt, wie Dir der Umzug bekommt!

    1. Liebe Claudia,

      das mit dem Fitnesscenter finde ich extrem spannend… Am besten finde ich, dass es offensichtlich auch dafür nie zu spät ist 😉

      Ja, wie mir der Umzug wohl „bekommen“ wird, das frage ich mich derzeit auch dauernd. Ist tatsächlich auch ein Fitnesstraining – der ganz besonderen Art …

      Wenn es wieder ruhiger geworden ist, werde ich berichten.

      Bis dahin
      Maria

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