Buchtipp: Unsichtbare Frauen. Caroline Criado-Perez
Ursprünglich habe ich diese – sehr dringende – Buchempfehlung für eine Blogparade geschrieben: die Frage meiner Kollegin Cordula Natusch, welche Sachbücher 2020 wir empfehlen wollen. Meinen Originalbeitrag findet ihr hier.
Mein wichtigster Buchtipp heißt „Unsichtbare Frauen“, ist 2020 auf deutsch erschienen und wurde von Caroline Criado-Perez geschrieben. Die Journalistin, Feministin, Aktivistin und Trägerin des britischen Ritterordens OBE wurde 1984 in Brasilien geboren und lebt in London. Drei Jahre lang hat sie gebraucht, bis sie dieses Buch publizieren konnte – kein Wunder, denn es ist eine beeindruckende Faktensammlung. Und viel mehr als das.
Männlich ist allgemeingültig, weiblich nie
Das Buch „Unsichtbare Frauen“ geht tatsächlich die ganze Menschheit an. Und das ist keine Übertreibung. Die eine Hälfte, weil sie oft gar nicht ahnt, was sie alles anrichtet, wenn sie weiterhin einfach nur die Maßstäbe des eigenen Geschlechts und dessen Lebenswelten zugrunde legt – oft nicht einmal aus explizit böser Absicht, wie die Autorin durchaus betont. Sondern, weil diese Hälfte der Menschheit schon viel zu lang die Maßstäbe für ALLE Menschen setzt. Ergebnis: Eine von Daten beherrschte Welt ignoriert die Hälfte der Menschheit. So steht es im Untertitel, darum geht es in dem Buch. In der Fachsprache: Es geht um einen unfassbar großen „Gender Data Gap“, eine Datenlücke, die auf erschreckende Weise zeigt, dass alles Männliche das „Allgemeingültige“ ist und Frauen bestenfalls eine „Nischenidentität“ haben. Denn die Daten-Beherrschung liegt natürlich weitestgehend in männlicher Verantwortung. Und es ist schrecklich.
Unsichtbare Frauen sind Nischenwesen
Zur Offenlegung dieses Schreckens trägt die Autorin vor allem durch eine ungeheure Datenmenge bei: 1.331 Anmerkungen hat das Buch. Und etwa so viele Praxis-Beispiele hat sie gesammelt, um endlich einmal zu dokumentieren, wie weltweit Frauen darunter leiden, dass Männer einfach eine andere Sicht auf die Welt haben als sie. Wie wenig die Lebensrealität beider meist übereinstimmt. Und wie sich diese Diskrepanz immer weiter verfestigt – weil sie aus gewachsenen Strukturen besteht. Die nicht mal eben, aus reinem „goodwill“ geändert werden können. Dass durch diese Fakten Präsenz-, Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten von Frauen am „normalen Leben“ ebenso klein bleiben müssen wie die Möglichkeiten des Geldverdienens, versteht sich fast von selbst – hat man einmal die Mechanismen begriffen.
Es geht um Fakten!
Das ist das vielleicht Verrückteste an diesem Buch: Criado-Perez geht es an keiner Stelle um Schuldzuweisung, sondern „nur“ um Dokumentation. Und allein die Dokumentation ganz alltäglicher Lebensumstände von Frauen auf der ganzen Welt reicht völlig aus, um zu erklären, wie es beispielsweise dazu kommt, dass sie noch immer nachts im Dunkeln an Bushaltestellen weltweit massenweise sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Dass kaum jemand eine Ahnung zu haben scheint, wie es dazu kommen konnte. Und was sich dagegen tun lassen könnte. Fatal ist: Da gibt es jetzt schon so viele Löcher in den (nicht vorhandenen) Daten- und Faktensammlungen, dass die Lücken quasi täglich größer werden. Studien dazu, warum vorwiegend Frauen nachts an dunklen Haltestellen stehen? Fehlanzeige. Also auch: keine Handhabe, kein Grund, in irgendeiner Weise aktiv zu werden. Und jedes Argument bleibt das, als was alles in unserer Welt angesehen wird, was nicht auf „harten Fakten“ beruht: Spekulation, Meinung, bestenfalls goodwill, nachdem mal wieder irgendwo auf dieser Welt die Gewalt gegen Frauen allzu offensichtlich wurde.
Warum ist dieses Buch ein „Muss“ für mich?
Die Sache mit den Bushaltestellen ist nur eins von sehr vielen Beispielen/Funktionsmustern, die Criado-Perez in ihrem Buch aufzeigt. Ähnlich funktioniert das am Arbeitsplatz, bei Arztbesuchen und anderen Erfordernissen des Alltags – sogar noch beim Klavierspielen. Die Folgen kennen wir: Diese blöde „Gefühl“, dass Frauen ganz und gar nicht gleichberechtigt sind. Was sich aber immer so schrecklich schwer beweisen lässt, dass jede Gegenmaßnahme quasi schon im Keim erstickt wird … Warum sollte denn auch gehandelt werden?! Ist ja nur eine Meinung, „nur Ansichtssache“. Eben nicht! In diesem Buch lernen wir die Gründe kennen. Und darum halte ich es für SEHR wichtig.
Es ist eine ungeheure Fleißarbeit. Aus Überzeugung. Mit dem klaren Auftrag: Da muss sich doch endlich was unternehmen lassen! Etwas, das sinnvoll ist. Etwas, das langfristig und nachhaltig hilft. Meiner Ansicht nach müsste diese Faktensammlung, diese Offenlegung männlicher Denk-, Handlungs- und Machtstrukturen allerorten Pflichtlektüre sein!
Das englische Original erschien 2019, die deutsche Übersetzung 2020 bei btb.
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2 Gedanken zu „Buchtipp: Unsichtbare Frauen. Caroline Criado-Perez“
M ir fällkt bei der Beschäftigung mit den Great Women meiner Blogreihe auf, dass es immer schon Frauen gab, die Gleichwertiges geleistet haben, die fähig waren und zum gesellschaftlichen Miteinander beigetragen haben, aber von der männlich dominierten Geschichtsschreibung peu à peu unterschlagen wurden, so dass ein schiefes Bild, auch in den weiblichen Köpfen entsteht. Und wenn ich dann hochrechne, von den Frauen, über die man noch Spuren finden kann, dann komme ich zu dem Schluss, dass auch das unbekannte Lieschen Müller bemerkenswerte Leistungen erbracht hat, aber Ideologien sich durchgesetzt haben, die uns für dumm verkaufen.
Ich mag dieses Klischee „alter weißer Mann“ eigentlich nicht verwenden, aber das Körnchen Wahrheit in diesem Bild ist, dass genau diese Spezies die Sicht auf die Welt bestimmt, normiert und inzwischen in einem Rollback mit Gewalt in Worten & Taten wieder durchzusetzen versucht.
Das Buch ist wirklich empfehlenswert, aber auch irgendwie deprimierend.
GLG
Astrid
Liebe Astrid,
vielen Dank für deinen Kommentar. Ich gebe dir in allem Recht, außer in einem Punkt: Deprimierend fand ich das Buch gar nicht. Denn es war für mich genau DIE Erklärung, die mir immer gefehlt hatte: Warum klappt das nach so vielen Jahrzehnten Bemühung noch immer nicht mit der Gleichberechtigung? Und da gingen mir dann immer vor allem die fehlenden Fakten – anders rum: die oft emotionalen Debatten – auf die Nerven. Dass aber gerade die Datenlage sowohl Fundament wie Lösung sein kann, war für mich ein Aha-Erlebnis. Und ein Hoffnungsschimmer.
Ganz herzliche Grüße
Maria