Viele Kriegsenkel tun sich schwer damit, ihre Geschichte zu erzählen. Auch ich

Viele Kriegsenkel tun sich schwer damit, ihre Geschichte zu erzählen. Auch ich

Heute ist der 13. Februar. Und ich kann gar nicht anders … Immer muss ich an diesem Tag an Dresden denken. Denn die Stadt hat sehr viel mit meiner Familiengeschichte zu tun: Meine Mutter wurde dort 1937 geboren, ihr Vater war dort von 1948 bis 1953 Dozent für Musikgeschichte und gleichzeitig auch Dramaturg der Oper am Staatstheater Dresden, besser als Semperoper bekannt. Ich bin bei ihm und seiner Frau aufgewachsen – in Stuttgart allerdings. Er war mir sehr nah. Und seine Geschichte war schwierig, nachzulesen hier. Das ist die persönliche Seite.

Und die Fakten?  Die besagen, dass vom  13. bis 15. Februar 1945 vier Angriffswellen der Royal Air Force und der United States Army Air Forces die Stadt – früher mal bekannt als schönes Elbflorenz – in Schutt und Asche legten. Das forderte zwischen 22.700 und 25.000 Menschenleben. Meine Großmutter saß währenddessen mit ihren beiden Töchtern auf einem Hügel über der Elbe und sah zu, wie Menschen schreiend, brennend in die Elbe sprangen.  So hat sie es mir erzählt, wieder und wieder. Da war ich fünf. Oder sieben oder acht – egal, im Hinterkopf habe ich diese Bilder mein Leben lang. Denn meine Großmutter hatte auch eine große Kiste neben ihrer Nähmaschine stehen, voll mit Zeitungsausschnitten, die von dem bombardierten Dresden nicht nur berichteten, sondern auch viele Fotos zeigten. Immer, wenn sie an ihrer Nähmaschine saß, stahl ich mich zu ihr. Denn es war selten, dass sie so ruhig dasaß. Doch sie saß relativ oft an der Nähmaschine. Früher oder später wühlten wir beide in der Kiste mit den Zeitungsausschnitten. Damit ist noch halbwegs nachvollziehbar, warum ich oft das Gefühl habe, ich hätte die Bombardierung Dresdens miterlebt – obwohl ich erst 15 Jahre danach geboren wurde. Ich habe irgendwie doch „echte Erinnerungen“ daran.

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Epigenetik – oder was?

Was ich gar nicht nachvollziehen kann, ist die Sache mit den Sirenen. Noch heute kriege ich bei jedem Probealarm Angst. Richtig körperlich und sehr real. Dann denke ich immer: „Warum?! Ich habe es doch gar nicht selbst erlebt!“ Es hat sehr lang gedauert, bis ich jetzt endlich verstanden habe: Ja, es könnte was Wahres dransein an der Sache mit der Epigenetik … Da ist was in meine Gene gewandert … Kaum reale Bilder, Emotionen, Erinnerungen an gar nicht selbst Erlebtes. Und doch sind sie da, ob ich nun will oder nicht. (Ich will natürlich nicht!)

Zum Hintergrund: Die Epigenetik beschreibt, was sich im Erbgut außer der DNA alles noch verändern kann. Kurz gesagt: ziemlich vieles. Doch vieles ist noch gar nicht wirklich erforscht. So sagt beispielsweise Prof. Dr. Alon Chen, Direktor und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie im Interview mit der Deutschen Welle hier: „Es ist bisher ungeklärt, wie diese epigenetischen Veränderungen genau vererbt werden. Denn es spielen viele Faktoren mit. Wenn eine Mutter großem Stress ausgesetzt ist oder die epigenetische Signatur von ihren Eltern geerbt hat, verändert das die Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umgeht.“

Wie gesagt: Mit acht Jahren saß meine Mutter auf diesem Hügel in Dresden, das am 13. Februar massivst bombardiert wurde. Wie viele Bombennächte und Sirenenalarm-Attacken dem vorausgingen, weiß ich nicht. Mit meiner Mutter habe ich – wie so viele Kriegsenkel:innen – über so etwas nie gesprochen, nie sprechen können. Das verbot sich immer irgendwie von selbst. Die drei Jahre jüngere Schwester meiner Mutter wäre im Prinzip dazu eher bereit. Aber sie ist sich sicher, dass sie sich an „gar nichts“ aus dieser Zeit erinnern kann.

Kriegsenkelin bin ich schon lang, doch die Erkenntnisse sind jung

Jahrzehntelang habe ich gedacht, dass mit mir so einiges nicht stimmt … Auch das teile ich mit vielen sogenannten Kriegsenkeln. Dieses eher seltsame Wort „Kriegsenkel“ dagegen kenne ich noch nicht allzu lange. Doch ich muss mich ihm irgendwie stellen. Einerseits wollte ich wirklich nicht NOCH so ein Etikett mit mir rumtragen müssen … Ich hatte gerade beschlossen, dass ich einfach nur so sein will, wie ich bin. Individuell, eigensinnig, basta. Bitte keine Etiketten mehr!

Doch um die Kriegsenkelin komme ich wohl nicht herum. Die Zusammenhänge dahinter sind für mich eine Realität, die schlicht nicht zu leugnen ist. Und real ist auch, dass und wie ich mich erst langsam vortasten muss: Was bedeutet das alles? Wie verhalte ich mich dazu? Um beispielsweise so persönliche Erlebnisse wie die hier aufzuschreiben, muss ich mindestens einmal sehr tief Luft holen. Mindestens. Denn das ist ja auch Teil des Problems: Dass wir so viel Stille, „Geheimnis“, eben: Stillschweigen von unseren Eltern und Großeltern übernommen haben.

Dank an alle, die davon erzählen

Ja, ich bin sehr froh, dass so viele „vorausgegangen“ sind und erzählt haben. Kriegsenkel:innen wie ich, meist auch „Babyboomer“ wie ich (hab ichs schon gesagt? Etiketten!!!) Dass sie sich zu Wort melden, hinterfragen, erzählen. Nur so können wir erkennen, lernen, was mit uns los ist. Verstehen, dass wir nicht „falsch“ sind, es nie waren.

Ich danke allen, die öffentlich davon erzählen. Und um diesen Dank auszudrücken, nehme ich das Thema Kriegsenkel hier immer mal wieder in den Blick. Vorzugsweise über das Lesen von Büchern. Denn das ist die gute Nachricht hinter all den schwarzen Löchern, Fakten und „Geheimnissen“, die uns Kriegsenkel umtreiben: Wir können davon erzählen! Damit helfen wir nicht nur uns selbst, sondern auch vielen anderen Menschen.

Vermutlich habe ich aus genau diesem Grund mein Leben und all meine Kenntnisse so ausgerichtet, dass ich Menschen dabei unterstützen kann … „Vermutlich“, weil ich das nie bewusst und etwa mit dem Vorsatz getan habe: „Ich möchte Kriegsenkel:innen helfen, ihre Geschichten zu erzählen!“ Trotzdem vermute ich, dass ich AUCH aus diesem Grund Lektorin, Coach und Buchhebamme bin … Damit zusammenkommt, was zusammengehört. Damit erzählt werden kann, was erzählt werden sollte. Damit wir gemeinsam nach vorne sehen und Ereignisse, die 77 Jahre zurückliegen, auch wirklich hinter uns lassen können.

Gleichzeitig weiß ich nur allzu gut, wie schwer es ist, davon zu erzählen … Ich suche jetzt schon ziemlich lang nach einem „Packende“ dafür. Für mich. Doch – getreu meiner Maxime vom Eigensinn – weiß ich: Das muss wachsen. In mir. Forcieren kann ich es nicht. Wer da allerdings schon einen Schritt weiter ist, wem ich helfen kann, darüber zu schreiben: gerne melden!

 

 

 


Text: Maria Al-Mana

Bild:  ©  SZ-Archiv


 

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