Früher war alles besser! Oder: die Scheinriesen

Früher war alles besser! Oder: die Scheinriesen

„Oh Gott, jetzt bin ich wirklich alt!“ Diesen blöden Satz sage oder denke ich in letzter Zeit häufig. Und zwar fast immer in ähnlichen Zusammenhängen.

Eigentlich ist es sogar fast immer der gleiche Satz. Es geht um dieses fatale „Früher war es besser.“ Oder  sogar „früher war alles besser.“ Damit gehe ich mir selbst auf die Nerven. Und dann weiß ich, dass ich da mal genauer hingucken sollte: Was denke oder sage ich da eigentlich, ganz konkret?

Ich habe die Frage hin und her geschoben. Und bin auf viele Dinge gestoßen, die auch schon andere Menschen erkannt haben.

Vor allem das Problem der Komplexität. Mein Eindruck ist: Die Komplexität unseres Lebens wird quasi mit jeder Sekunde größer.

Da muss nicht nur ich kapitulieren. Sondern viele andere Menschen auch. Vermutlich alle, ganz unabhängig vom Alter. Wir alle spüren, dass wir dieser Komplexität nicht gewachsen sind. Manche nennen es Informationsflut. Andere Überforderung. Technik spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Beinah-Unkontrollierbarkeit von Fakten. Ein sehr, sehr weites Feld …

Ich bin aber noch auf einen anderen Gedanken gestoßen und genau den wollte ich euch hier gern mitteilen.

Der ist ganz einfach: Wenn ich an, egal welches „Früher“ denke, handelt es sich dabei immer um etwas, das ich in irgendeiner Form bewältigt habe. Ich habe es hinter mich gebracht, erfolgreich abgeschlossen oder auch nur über mich ergehen lassen. Habe irgendeine Form gefunden, damit umzugehen.

Ganz banal gesagt: Ich habe es geschafft. Das ist jetzt überhaupt keine Bewertung. Spielt auch gar keine Rolle ob es gut oder schlecht geschafft wurde. Aber ich habe es geschafft.

Ich glaube, das ist die Crux bei der ganzen Sache:  Was auch immer ich heute machen muss oder morgen leisten soll, hinter mich bringen oder lösen, umsetzen oder irgendwie tun will oder soll – es ist immer erstmal eine Art Scheinriese. Wenn ich Glück habe, wird er, je näher ich ihm komme, Schritt für Schritt kleiner. Und wenn ich ihn schließlich hinter mir gelassen habe, spielt es vielleicht gar keine Rolle mehr, dass er mir mal so riesig vorgekommen ist. Vermutlich ist das Teil dieses Komplexitätsproblems. Ja, ich fürchte, das haben wir, ein Komplexitätsproblem. Die Komplexität kann uns in fast allen Bereichen unseres Lebens riesig vorkommen. Und hinter der nächsten Ecke wartet ein anderer Riese …

Für mich gilt das vor allem im Bezug auf alles, was mit sogenannter Künstlicher Intelligenz zu tun hat. Aber es gibt jede Menge anderer Bereiche: Wie kriegen wir die Klimakrise in den Griff? Wie können wir Generationengerechtigkeit leben?

Was ist mit unserer Wirtschaft, dem Demokratieverständnis unserer Gesellschaft? Und so weiter …

Ich weiß schon seit langem: Es gibt keine einfachen Wege, nirgendwo. Es gibt kein Entweder-oder. Doch die Komplexität wird in meiner Wahrnehmung tatsächlich täglich größer.

Meine Erkenntnis Nummer 1 ist also: Dieses „Früher war alles besser“ ist nichts als eine zeitliche Abfolge – einmal vor, einem hinter dem scheinbaren Riesen.

Erkenntnis Nummer 2 hat mit meinen Erfahrungen zu tun. Ich habe schließlich erlebt oder erfahren, dass ich Situation X und Y vor einiger Zeit irgendwie geschafft habe. Diese Erfahrung sollte mir doch sagen, dass ich auch die Situationen Z und Epsilon in Zukunft irgendwie schaffen kann!

Erkenntnis Nummer 3 ist für mich: Möglichst keine Scheinriesen mehr! Lass sie so schnell wie möglich verschwinden. Ich kann mit ihnen umgehen – und sei es schlimmstenfalls dadurch, dass ich an ihnen vorbeilaufe. Tausendmal besser natürlich, indem ich sinnvoll auf sie reagiere. Aber immerhin weiß ich: Je näher mir so ein scheinbarer Riese kommt, desto kleiner wird er. Dann ist JETZT alles besser. Und nicht „früher“ …

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