Wir, unser Ego, die Aufklärung und die „digitale Gesellschaft“

Wir, unser Ego, die Aufklärung und die „digitale Gesellschaft“

„Wie kann eine zweite Aufklärung für die digitale Gesellschaft aussehen?“

Peter Diekmann heisst der Autor (meines Wissens nicht mit Kai verwandt), Manager Digitale Kommunikation bei der Bertelsmann Stiftung, und der Beitrag mit dem schönen Titel „Was Dampfmaschinen mit Digitalisierung zu tun haben und warum wir ein neues Zeitalter der Aufklärung brauchen“ steht bei Medium hier. Und mir juckt es dermaßen in den Fingern, dass ich darauf antworten muss. Ganz offensichtlich hat da schon länger was gegärt….

Vielen Dank für diese Frage!

Die Philosophin in mir, die schon seit rund 50 Jahren regelmäßig die Welt in ihre Einzelbestandteile zerlegt und wieder neu zusammenzusetzen versucht, kann da nämlich nicht widerstehen: Ich will versuchen, die Frage zu beantworten:“Wie kann eine zweite Aufklärung für die digitale Gesellschaft aussehen?“ Sicher auch darum, weil dieser Prozess des Auseinandernehmens und Wiederzusammenbauens immer schon so anstrengend war, dass ich mich dauernd fragte, warum zum Teufel ich mir das immer wieder antun muss. Weil dieser Prozess mit den unzähligen Möglichkeiten des „Digitalen“ zu einem Strudel wurde, aus dem ich mich zeitweilig nur durch völliges Kopf-in-Sand-Stecken und der sehr aktiven Haltung: „Finger weg von allem Virtuellen!“ befreien kann. Ja: Manchmal tue ich das. Seit ich mich wieder selbstständig gemacht habe, ist das allerdings nur eine mäßig gute Idee. Ich schaffe diese „digitale Enthaltsamkeit“ zwar  —  im Gegensatz zu vielen virtuell arbeitenden Menschen  —  durchaus (noch), doch schon nach einigen Tagen meldet sich das blöde Gefühl, so viel verpasst zu haben, dass ich es vermutlich NIE mehr einholen kann. Was natürlich Quatsch ist. Und ziemlich fatal, weil es das Gegenteil dessen ist, was ich sein möchte. Das Gegenteil der reifen, aufgeklärten Frau, als die ich mich viel lieber sehen würde.

Ja: Ich bin gekränkt!

Kurz: Ich bin gekränkt. Schon nach so kleinen Episoden. Aber wenn ich ehrlich bin, eigentlich ganz grundsätzlich: überall dort, wo ich in die Nähe dieser virtuelle Lawine gerate. Die ich nie einholen kann. Der ich nie entkommen kann. Und der ich niemals genügen werde. Das führt dazu, dass ich das „virtuelle Leben im realen“ nie, niemals nicht zu fassen kriege. Geschweige denn nach meinen Bedürfnissen und zugunsten meiner eignen Perspektive auseinandernehmen und neu zusammensetzen kann, siehe oben. Keine Chance. Aber dass ich das niemals hinkriege, will ich natürlich erst mal nicht glauben. Von Selbstzweifeln geplagt — wie wohl die meisten Menschen  —  denke ich immer wieder, es liegt an mir. Ich bin zu blöd, eine technische Niete, zu spät geboren  —  und so weiter. Der Stein von Sisyphos war vermutlich schwerer. Aber „das Digitale“ ist mit Sicherheit glitschiger… Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Kaum denke ich, ich hab was kapiert, mache etwas richtig, ist es  —  flutsch!  —  auch schon wieder weg: neue Technik kam dazu, andre Perspektiven sind zu berücksichtigen, meine Zielgruppe orientiert sich schon in jenem Moment woandershin, in dem ich sie für eine Sekunde aus den Augen lasse….

Die „digitale Welt“ ist nie zu fassen

Die digitale Welt manifestiert sich also für mich nie als etwas, mit dem ich umgehen könnte. Als etwas mit Kontur. Etwas, das ich formen oder auch nur fassen könnte. Das wenigstens die kurze Zeit mal stillhält, die ich brauchen würde, um mich in dieser Welt so zu orientieren, dass ich so was wie einen rudimentären Kompass im Kopf hätte. Und ich bin noch gar nicht mal so schrecklich langsam… Aber viel zu langsam für DIESES Tempo. Und das hat ganz direkte Auswirkungen. Auf mich: Ich kann mich nämlich dort nirgendwo manifestieren. Nicht wirklich. Nicht so, wie ich mir das wünsche. Immer wieder denke ich: „Du bist hier völlig unsichtbar.“ Was   natürlich auch gar nicht stimmt. Denn ich habe Leser/innen, Kunden, ein Netzwerk. Keine Frage. Bin ich jetzt besonders empfindlich, selbstkritisch, was weiß ich? Ich glaube nicht. Ich denke, das ist ein Prozess. Jeder, der täglich mit der „digitalen Welt“ umgeht, erlebt stündlich mehr Enttäuschungen, reale, technische und virtuelle Kränkungen als ich zum Beispiel in meiner ganzen Schulzeit zusammengenommen. Vieles merken wir ja schon gar nicht mehr. Wenn wir Geräte mit: „Los, jetzt mach schon!“ anfauchen, uns schäumend vor Wut damit abfinden müssen, dass die Arbeit von Stunden mal wieder irgendwo im Orkus verschwunden ist  —  und noch nicht mal ein sichtbar kleines, teuflisch dampfendes Wölkchen hinterlassen hat, Systemkollissionen auftreten, die zu lösen Stunden dauert….. Da brauchts noch gar keine Trolle, Beschimpfungen von Unbekannten oder so, die Kränkungen beginnen schon viel früher.

Da ist es gar nicht mehr weit bis zu der Einsicht, dass sich das “Digitale“ mit Fug und Recht als vierte große Kränkung der Menschheit bezeichnen lässt: nach der kosmologischen, der biologischen und der psychologischen Kränkung unserer Egos zeigt uns die „digitale Kränkung“ einmal mehr und überdeutlich, wie wenig wir Herr (oder Frau) im eignen Haus sind….

Frau im eignen Haus….

Die Idee, diese Kränkung jetzt als einen Schritt im noch lang nicht abgeschlossenen (und dringend notwendigen) Prozess der Aufklärung zu sehen, gefällt mir außerordentlich gut. Nur muss man sich dann —  meiner Ansicht nach  —  als Allererstes fragen: Was tun mit unsrem angeknacksten Selbstbewusstsein? Natürlich rede ich hier ganz allein von mir. Ich weiß, dass das nicht alle Menschen so sehen…

Es mag sogar Menschen geben, die ganz sicher sind, dass SIE die digitalen Möglichkeiten virtuos beherrschen, dass sie alle Fäden in der Hand halten. Dass sie selbst lenken. Und nicht gelenkt werden — jetzt gar nicht im Sinn der großen, bösen Datenkraken und Co. … sondern einfach nur im Sinn all der kleinen (technischen) Malheurs, des Immer-Wieder und Immer-wieder-Neu, des Nie-ans-Ende-Kommen-Könnens gelenkt werden. Also, ich hatte sehr lange Zeit das Gefühl: Bevor ich das nicht in den Griff gekriegt habe, bevor ich nicht „Herrin im eignen digitalen Haus“ bin, kann ich gar nicht mitreden. Geschweige denn aufgeklärte Statements entwickeln. Erst muss ich die Technik beherrschen, dann kann ich wieder anfangen, philosophisch untermalte Gedanken zu haben….

Huhn, Ei oder Maschine? Ne: absurd!

Inzwischen denke ich: Ganz großer Irrtum! Keine Ahnung, ob nicht vielleicht doch irgendwo eine Verschwörungs-Maschine in der Ecke steht, die uns schon seit Jahrzehnten in dieser flutschigen Sisyphos-Episode gefangenhält, uns immer wieder zurück auf Anfang schickt, um jede aufkeimende Hoffnung, die Sache doch noch in den Griff zu kriegen, wieder und wieder zunichte zu machen. Und uns auf diese Weise immer unsicherer werden lässt, immer weniger selbstbewusst, definitiv unfähig zu Äußerungen aufgeklärter und/oder aufklärerischer Gedanken… Vielleicht ist das alles ja auch nur ein aufgeregt umherflatterndes Huhn — aber dann weiß ich nicht, wo dessen Ei einst herkam. Und ob es zuerst da war… Absurder Gedanke? Mit Sicherheit! Aber solcherart sind zumindest meine Gedanken, wenn ich die Dinge einfach nicht sortiert kriege. Und so verheddere ich mich  —  gemeinsam mit vielen andren Bewohnern unsrer digitalen Gesellschaft  —  immer weiter in absurde, absurd unwichtige Gedanken. Mit denen wir niemals zu einem Konsens kommen werden. Oder gar zu einer klaren Aussage  —  von Handlungen redet ja sowieso schon lang niemand mehr….

Strich ziehen, Cut, Aus, Ende!

Cut! Das ist für mich die einzige Lösung. Ich untersage mir selbst ab sofort, meine Denkfähigkeit in und über die „digitale Gesellschaft“ von eben dieser Gesellschaft und all ihrer Technik abhängig zu machen. Ich bin ein mittelschlauer Mensch, der selbst denken und handeln kann. „Das Digitale“ hat mein Heer aus dienstwilligen Sklaven zu sein, nichts sonst. Ganz bestimmt kann es mich weder lähmen noch kränken. GRRR, Rechner abgestürzt! Nein, im Ernst: Das übe ich jetzt erst einmal. Sklaven sind Sklaven —  und die haben mir keine Vorgaben zu machen! Dann klappt das eines Tage vielleicht auch wieder mit dem Gedankengut der Aufklärung…

Jetzt bin ich wirklich neugierig: Schieße ich mit diesen Gedanken mal wieder völlig übers Ziel hinaus? Oder seht ihr darin ein oder mehrere Körnchen Wahrheit? Könnt ihr den ein oder anderen Gedanken aus eignen Erleben bestätigen? Wo würdet ihr widersprechen?

Ich freue mich, wenn ihr diesen Beitrag in die Welt tragt ... danke!

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